Berlin.

Die Angst vor dem Tod rückt ganz nah, wenn wir das Wort Palliativmedizin hören. Viele Ärzte sehen das allerdings ganz anders. Denn selbst wenn eine Krankheit nicht mehr geheilt werden kann, gebe es viele Möglichkeiten, „den Tagen mehr Leben zu geben“ – mit neuen, gezielten Therapien und einem Netzwerk, das Kranke auch zu Hause auffängt. Die ambulante Palliativversorgung durch Haus- und Fachärzte wird derzeit ausgebaut.

Regina M. (Name geändert) ist Mitte 70 und weiß seit fünf Jahren, dass sie krebskrank ist. Bei einer Routineuntersuchung hat ihre Frauenärztin einen Tumor im unteren Bauch festgestellt, seitdem lebt sie mit der Krankheit. Verschiedene Therapien halten immer wieder auftauchende Metastasen (Tochtergeschwulste) in Schach. Noch immer fährt sie Rad und verreist mit ihrem Lebensgefährten ans Meer.

„Wir kennen viele Patienten in einer solchen Situation – heilen können wir sie nicht mehr, aber sie leben noch mehrere Jahre gut, weil wir ihnen heute zum Beispiel mit einer hochpräzisen Bestrahlung helfen können. Das war vor 15 Jahren nicht möglich“, sagt Professor Stephanie E. Combs, Palliativmedizinerin und Direktorin der Klinik und Poliklinik für Radio-Onkologie und Strahlentherapie am Universitätsklinikum der Technischen Universität München (TUM).

Ärzte mehrerer Disziplinen arbeiten Hand in Hand

Die Expertin sieht „palliative Versorgung“ als dehnbaren Begriff. Er bedeute vor allem, dass Schmerzen und andere Symptome, auch seelische Nöte bei Schwerkranken, gelindert werden. Bei der Behandlung arbeiten Ärzte verschiedener Disziplinen in spezialisierten Zentren Hand in Hand: Wenn der Chirurg Tumore nicht mehr allein mit Operationen unter Kontrolle bringen kann, kann die Radio-Onkologin mit neuen Mitteln helfen: etwa der sogenannten stereotaktischen Strahlentherapie.

Dabei werden Metastasen und damit Bestrahlungspunkte – etwa im Gehirn, in der Leber oder in den Knochen – mit hochauflösender Bildgebung wie einer Magnetresonanztomografie festgestellt – und dann in wenigen Sitzungen über ein bis fünf Tage gezielt ambulant bestrahlt. „So können wir jetzt zum Beispiel bei Menschen mit Hirntumoren verhindern, dass ihre Haare flächendeckend ausfallen oder die Merkfähigkeit angegriffen wird. Das sind häufige Folgen, wenn wie bisher das gesamte Hirn bestrahlt wird“, erklärt Stephanie Combs. Zwei amerikanische Studien belegen laut der Deutschen Gesellschaft für Radio-Onkologie (DEGRO), dass Patienten durch gezielte Bestrahlung weniger kognitive Einschränkungen haben. Stattdessen könne man effektiv gegen Schmerzen vorgehen, die sonst entstehen, weil Metastasen den Hirndruck erhöhen oder dafür sorgen, dass Knochen brechen.

„Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“ – dieser Ausspruch von Cicely Saunders, Begründerin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin, bestimmt die Arbeit von Claudius Löns. Löns arbeitet seit fast 25 Jahren als Hausarzt und Palliativmediziner in Düsseldorf als Teil eines multiprofessionellen Palliative-Care-Teams (PCV), wie es sie mittlerweile in allen Teilen Deutschlands gibt. Dazu gehören neben dem Hausarzt von Patienten wie Regina M. auch ausgebildete Pflegende in spezialisierten Pflegediensten, ambulante Hospizdienste, Seelsorger, Sozialberatungen und Apotheken.

„Von der Arbeit eines solchen Netzwerks profitieren vor allem Menschen, die unter zunehmenden Beschwerden durch ihre Erkrankung leiden. Oft ziehen sich diese Menschen zurück, werden körperlich schwächer, leiden unter Schmerzen, Übelkeit, Atemnot oder anderen belastenden Symptomen“, sagt Löns und betont: „Je früher durch den Hausarzt oder einen anderen Behandler ein Palliativmediziner zur Beratung angefordert wird, desto mehr Energie für ein selbstbestimmtes Leben kann durch die Linderung quälender Symptome bewahrt werden.“ Palliativmediziner haben ein anderes ärztliches Verständnis: „Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam und auf Augenhöhe mit dem Patienten zu klären: Worunter leidet er am meisten? Damit wir schnell etwas daran ändern können und dadurch das Vertrauen des Menschen gewinnen“, erklärt Claudius Löns.

Ein Palliativmediziner hat inzwischen ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten, Symptome effektiv in den Griff zu bekommen: kombinierte Medikamente gegen Übelkeit und moderne Schmerzmittel; Psychopharmaka, die nicht nur die Stimmung aufhellen, sondern, ein erst kürzlich entdeckter Nebeneffekt, auch den Appetit anregen. „Hoch dosiertes Cortison spielt für uns ebenfalls eine besondere Rolle. Es kann etwa Schwellungen durch Metastasen an Knochen oder im Gehirn reduzieren und damit Schmerzen und andere Beschwerden lindern. Auch der Appetit wird dadurch in der Regel gesteigert“, sagt Palliativspezialist Löns.

Mit Fingerspitzengefühl gilt es für ihn und seine Kollegen außerdem herauszufinden, ob der Patient Bedürfnisse hat, die andere Ansprechpartner im Team erfüllen können: So kann der ambulante Hospizverein bei Krisen des Patienten oder der Betreuenden eingreifen und Belastungen auf mehrere Schultern verteilen. Psychotherapeuten helfen bei Ängsten oder Depressionen, Physiotherapeuten können mit Krankengymnastik Schmerzen nehmen und Pflegekräfte zeigen Angehörigen, wie sie mit der Schnabeltasse umgehen sowie andere hilfreiche Handgriffe.

„Die Umgebung braucht oft mehr Zuwendung als der Patient selbst“, meint Claudius Löns. Er bringt Ehepartnern oder Kindern bei, wie sie dem Kranken etwa eine Spritze setzen oder ihn mithilfe eines Nasensprays beruhigen können. „Wenn das Leben sich dann dem Ende zuneigt, sprechen wir über die Symptome des nahenden Todes wie den ‚brodelnden Atem‘, dessen Ursache wir nicht kennen.“

Dann geht es darum, Szenarien für die letzte Zeit zu entwerfen – wie zum Beispiel die palliative Sedierung, bei der man quasi in den Tod hineinschläft. „Die Menschen sind beruhigt, wenn sie wissen, dass ihnen diese Möglichkeit offensteht. Diese letztmögliche Option der Linderung unerträglicher Beschwerden wird jedoch nur von drei bis fünf Prozent der palliativ umsorgten Patienten eingefordert. Es geht halt ums Leben! Leben in der Nähe des Todes“, sagt Palliativmediziner Claudius Löns.