Berlin.

Städte machen zwei Prozent der Erdoberfläche aus. In ihnen leben fast vier Milliarden Menschen – etwas mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. „Die Verstädterung wird anhalten, auch in Deutschland“, sagt Psychiater und Stressforscher Mazda Adli. Für den 47-Jährigen ist es an der Zeit, Städte genauer auf ihre Risiken für die Psyche hin zu untersuchen.

Herr Adli, Sie haben ein Buch über Stadtstress geschrieben. Wie schlimm ist die Situation?

Mazda Adli: Dass Stadtleben mit mehr Stress einhergeht, erlebt jeder jeden Tag. Hektik und Betriebsamkeit oder auch der Lärm können uns ganz schön auf die Nerven gehen. Das macht uns aber noch lange nicht krank. Der Stadtstress, der unserer Gesundheit schadet, ist in erster Linie sozialer Stress. Also der Stress, der aus dem Zusammenleben erwächst. Wir vermuten, dass speziell die Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation oder Ausschlusserfahrungen problematisch sind. Wenn dieser soziale Stress dauerhaft anhält, und man sich ihm hilflos ausgeliefert fühlt, kann er krank machen.

Sollten wir lieber wieder aufs Land ziehen?

Für Deutschland gilt: Städte tun vielen Menschen gut. Denn sie vereinen am Ende mehr Vorteile auf sich als Nachteile. Dazu gehört eine bessere Gesundheitsversorgung, weshalb ja viele ältere Menschen in die Stadt ziehen, bessere Bildungs- und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Die Fördermöglichkeiten für Kinder sind in der Stadt viermal so hoch wie auf dem Land. Auch das Leben für Familien oder Alleinerziehende ist einfacher zu organisieren. Darüber hinaus hat man in den Städten mehr Chancen auf Wohlstand.

Trotzdem hat der Stadtmensch ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken.

Richtig, ein Paradoxon. Die Gesundheitsversorgung in der Stadt ist besser als auf dem Land. Das Risiko aber, an einer Depression, Angststörung oder Schizophrenie zu erkranken, ist höher.

Was kann der Stadtmensch tun, um seine Psyche zu stärken?

Es gibt so etwas wie „Großstadtskills“. Bestimmte Eigenschaften helfen dabei, sich in der Stadt wohl zu fühlen. Dazu gehört Partizipationsbereitschaft. Damit meine ich: Lust, sich am Stadtleben zu beteiligen, sich einzubringen. Mit offenen Sinnen seine Stadt wahrnehmen, wissen, wie es in seiner Straße riecht. Mal die Perspektiven wechseln, unterschiedliche Wege zur Arbeit probieren. Man muss die Stadt, in der man lebt, sozusagen in Besitz nehmen, sie sich zu eigen machen. Man sollte keine Angst vor der Stadt haben, sondern mit der Gewissheit vor die Tür treten, dass man sich das, was man braucht, organisieren kann. Dabei ist es hilfreich, möglichst viel Zeit im öffentlichen Raum zu verbringen und sich nicht hinter seiner Haustür zu verschanzen.

Was zählt noch dazu?

Dass man die soziale und räumliche Komplexität von Städten gut aushält. Hilfreich ist auch eine psychische Flexibilität und Frustrationstoleranz, um mit den Unwägbarkeiten der Stadt zurechtzukommen. Zum Beispiel, sich nicht davon nervös machen zu lassen, wenn man wegen einer Menschenmenge nicht so schnell vorankommt wie geplant. Ein weiterer Skill ist eine Kompetenz im Umgang mit Anonymität.

Was meinen Sie damit?

Anonymität ist das, was viele an der Stadt attraktiv finden. Bei manchen löst das aber negative Gefühle aus, etwa Fremdheit und Einsamkeit. Ein gesundes Maß an Anonymität leben zu können ohne sich einsam zu fühlen, ist ideal.

Was können Stadtplaner gegen den von ihnen beschriebenen Stadtstress tun?

Das zunehmende Verschwinden von Brachflächen oder öffentlichen Plätzen erfüllt mich mit Sorge. Öffentliche Plätze haben einen Gesundheitsauftrag. Dort können sich Menschen verbinden, ins Gespräch kommen, soziale Unterstützungsstrukturen bilden. Dadurch wird sozialer Isolation entgegengewirkt. Mit der zunehmenden Kommerzialisierung von Flächen veröden die Städte. Wenn das so weitergeht, haben wir in absehbarer Zeit ein Problem.

Das Sicherheitsbedürfnis nimmt zu. Sollten Städte stärker kameraüberwacht werden?

Niemand will eine kriminalitätsgebeutelte Stadt, und ich sage nicht, dass man keine Kameras braucht. Ich würde nur davor warnen, zu glauben, dass massive Kamerapräsenz das Sicherheitsgefühl verbessert. Massive Kameraüberwachung kann auch das Gefühl auslösen, sich in einer zutiefst unsicheren Gegend zu befinden, auch wenn das objektiv gar nicht der Fall ist. Darüber hinaus gibt es Grund anzunehmen, dass mit zunehmender Kamerapräsenz das sozialverantwortliche Handeln des Einzelnen abnimmt, dass jeder etwas weniger auf Mitmenschen achtgibt.

Was schlagen Sie vor?

Man kann auch durch stadträumliche Gestaltung das Sicherheitsgefühl verbessern. Mit offenen Flächen und Durchsichten, sodass viel Sichtkontakt nach draußen besteht. Die amerikanische Stadtplanung hat schon in den 1930er-Jahren solche Konzepte entwickelt. Mich stört es ein bisschen, dass wir über die Jahre und Jahrzehnte eine zunehmende Absicherungskultur entwickeln. Wir müssen aufpassen, nicht in eine Stimmung zu geraten, wo man jedwedes Lebensrisiko ausradieren will. Dann gibt es keine Freude mehr.

Sie wollen künftig erforschen, wie und wo Städte Stress auslösen.

Ich habe im vorletzten Jahr mit Kollegen und der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft das interdisziplinäre Forum Neurourbanistik gegründet, ein Zusammenschluss von Stadtplanern, Architekten, Sozial- und Neurowissenschaftlern. Es sind auch ein Philosoph, ein Zukunftsforscher und eine Geruchsforscherin dabei. Ziel ist es, besser zu verstehen, wo Stress in der Stadt entsteht. Und wie man Städte zu Orten macht.

Wie wollen Sie das anstellen?

Wir arbeiten an einem Projekt, bei dem es darum geht, eine Emotionskarte der Stadt zu erstellen. Dabei probieren wir methodisch verschiedene Ansätze aus. Wir prüfen auch, wie man dazu Apps und das Smartphone einsetzen kann. Am Ende wollen wir eine Stadtstresskarte haben.

Und welches Ziel verfolgen Sie damit?

Wir wollen Ansätze entwickeln, wie wir angesichts der rasanten Urbanisierung Städte zu lebenswerteren Räumen machen, die gut für unsere Psyche sind.

Mazda Adli: „Stress and the City“;
C.Bertelsmann, 384 Seiten, 19.99 Euro