Durch den Chor „Jetzt oder nie!“ in Neumünster erhalten Krebskranke Unterstützung und ein besseres Lebensgefühl

Viele Mitglieder des Chores „Jetzt oder nie!“ sind schon lange vor Probenbeginn im Caspar-von-Saldern-Haus, dem Sitz der Musikschule Neumünster, eingetroffen. Die Männer und Frauen umarmen sich, stehen in Gruppen zusammen und plaudern miteinander. „Die Begrüßung ist uns wichtig, dafür nehmen wir uns Zeit“, sagt Chorgründerin Andrea Krull. Eine erfüllte und glückliche Zeit, das ist der besondere Anspruch dieses Chores. Denn hier singen Menschen, die unter Umständen nur noch eine begrenzte Lebenszeit haben, weil sie an Krebs erkrankt sind.

Wie diese Diagnose das Leben umkrempelt, wie schwer es ist, die daraus entstehenden Ängste und Probleme zu bewältigen, hat Chorgründerin Andrea Krull selbst erlebt. 2013 traf sie der Befund überraschend und mit voller Härte: Eierstockkrebs im Endstadium. Der ganze Bauchraum war betroffen. Sie überstand eine komplexe Operation und eine Chemotherapie mit heftigen Nebenwirkungen. „Der Arzt riet mir, noch alles zu tun, was möglich ist, mir meine letzten Wünsche zu erfüllen“, sagt die 51-Jährige.

Die Grundschullehrerin lebt mit ihrem Mann und Sohn in Neumünster. Nach der Diagnose standen ihre Familie und auch die Freunde hinter ihr. Was ihr jedoch fehlte, waren Austauschpartner, Menschen, die ihre Lage verstanden. „Mich quälten Fragen wie zum Beispiel: Wie sterbe ich ohne Schmerzen und wer fängt meine Familie, meinen damals 13 Jahre alten Sohn auf?“, sagt Andrea Krull. Mit diesen Fragen blieb sie allein. „Ich musste etwas tun.“ So gründete sie die erste Selbsthilfegruppe für Frauen mit Eierstockkrebs in Norddeutschland. „Es gibt so wenig Gruppen, weil viele Frauen an dem Krebs sterben“, sagt sie. Inzwischen hat sie bundesweit weitere Gruppen initiiert und eine Internetseite mit umfangreichen Informationen zu Eierstockkrebs erstellt.

Noch in der Erholungsphase, knapp ein Jahr nach der Diagnose, sah sie innerhalb der ARD-Themenwoche „Zum Glück“ eine Dokumentation über Anke Engelkes „Chor der Muffeligen“. Die Komikerin hatte diesen Chor mit unglücklichen Menschen gegründet, um der Frage nachzugehen, ob Singen glücklich macht. „Das Ergebnis war beeindruckend, die Menschen hatten nach drei Monaten wieder Freude am Leben.“ Auch medizinisch ließ sich das gestiegene Glücksgefühl bei einer Hormonmessung nachweisen. „Da wusste ich: Das ist das Richtige für Menschen in meiner Situation.“ Sie wandte sich an die Leiter der Musikschule in Neumünster: „Ich kann nicht singen, ich habe keinen Chorleiter, aber ich will einen Chor für Krebskranke gründen.“

Ihre Idee überzeugte. Auch den Chorleiter Dieter Podszus. Ende 2014 startete „Jetzt oder nie“ mit acht Teilnehmern. Heute gehören rund 50 dazu, neben den Menschen mit Krebs singen auch Angehörige, Ärzte und Pflegekräfte mit. „Nicht immer können alle kommen, aber um die 30 sind zur Probe meist da“, erzählt Andrea Krull.

„Der Donnerstagabend ist mir heilig“, sagt Chormitglied Günter Abraham. Seit Januar ist er dabei, zwei Monate zuvor war bei ihm Blasenkrebs diagnostiziert worden. „Als ich das erste Mal zum Chor kam, war ich so ergriffen von der herzlichen Aufnahme, dass ich gar nicht singen konnte“, sagt der 68-Jährige. „Bei uns kann man seine Gefühle zulassen“, so Krull. Viele hätten die schwere Zeit selbst durchlebt, könnten verstehen, wenn Tränen rollen.

An diesem Abend ist die Gemeinschaft besonders wichtig. In der Nacht zuvor ist eine Teilnehmerin gestorben. In den Wochen vor ihrem Tod hatten sich einige Chormitglieder zum täglichen Einkaufen und Kochen zusammengeschlossen, um die Familie der Kranken zu entlasten. „Das Sterben gehört in diesem Chor dazu“, sagt Krull. Aber die Gruppe trägt das und gibt Kraft. „Wir kümmern uns umeinander, das stärkt“, sagt Chormitglied Heike Imbeck. Die Krankenschwester erkrankte vor sieben Jahren an Hautkrebs.

Heute stimmt Chorleiter Dieter Podszus mit den Sängern das Lied „Amazing Grace“ an. „Wenn es die Familie wünscht, werden wir es auch auf der Beerdigung singen“, sagt Krull. Auftritte hatte der Chor, bei dem jeder – auch ohne Vorkenntnisse – mitmachen kann, bereits bei Gala-Veranstaltungen oder Festen in Kliniken. „Und wir waren auf Chorreisen in Barcelona und Prag“, erzählt Andrea Krull mit Stolz. Eine Reise, das konnten sich einige zunächst nicht vorstellen, „aber wir haben ja Ärzte und Schwestern im Chor, warum es also nicht wagen?“, sagt die tatkräftige Frau. Die Ausflüge waren erfolgreich und sorgten für „ein positives Lebensgefühl“, so Krull.

„Beim Singen tritt die Krankheit in den Hintergrund“, weiß auch Chorleiter Podszus. Der gelernte Opernsänger hat bereits mehrere Chöre geleitet. „Im Unterschied zu anderen gibt es hier keine Eitelkeiten, anderes ist wichtig.“ Der Zusammenhalt etwa und auch der Humor. „Hier fallen mehr Witze über Krankheit und Tod als anderswo.“

Andrea Krull liefert gleich ein Beispiel. Nach der Chemotherapie sind ihre ausgefallenen Haare und Wimpern nicht mehr nachgewachsen. „Das ist selten, aber dafür lebe ich noch. Das ist besser, als Haare zu haben, aber dafür tot zu sein“, sagt sie und zupft an ihrer braunen Perücke. Obwohl sie nach der Chemotherapie eine weitere Immuntherapie abgelehnt hat, ist sie bislang tumorfrei. Vielleicht hat der Chor geholfen oder ihre aktive, lebensbejahende Haltung. Keiner kann die Gründe erklären. „Das ist auch egal, ich mache weiter, solange ich kann“, sagt sie und wirkt glücklich.

Weitere Infos zum Chor und der Selbsthilfegruppe unter: www.ovarsh.de