Berlin.

Ferien an den schönsten Stränden der Welt, Bergpanoramen oder eine Städtereise – das war lange das Nonplusultra. Wer den Nervenkitzel suchte, ging auf Safari oder auf Segelturn. Urlaub in Katastrophengebieten gehörte lange nicht zum Standardprogramm. Die Reise zum Leid der anderen – das ist laut Tourismusforschern eine neue Entwicklung: Schlachtfelder, Bunker oder die Pauschalreise nach Tschernobyl, die mitten hinein führt in die verseuchte Sperrzone, liegen im Trend. Selfies vor dem 1986 explodierten Atomreaktor sind ausdrücklich erlaubt – ein Anbieter verspricht „tonnenweise gute Emotionen und Erinnerungen“.

Für 500 bis 1000 Euro pro Kurztrip können Touristen in die ukrainische Strahlenwüste reisen, Verpflegung und Unterkunft inklusive. Für 20 Euro Aufschlag stellt der Stadtführer den Besuchern sogar Menschen vor, die nach der Evakuierung zurückgekehrt sind und nun als Selbstversorger in der verseuchten Zone leben.

Nach dem afrikanischen Safari-Boom in den 70er-Jahren kam der Boom von Kletterreisen zum Himalaya. Inzwischen reicht das vielen nicht mehr – es zieht sie an die Orte des Schreckens. Waren Touren nach Tschernobyl vor wenigen Jahren noch streng verboten, registrierte die Zonenverwaltung 2014 etwa 10.000 und ein Jahr später schon 16.000 Besucher. Die Ukraine hält sogar bis zu eine Million Tschernobyl-Touristen pro Jahr für möglich. Experten sprechen von „Dark Tourism“, dunklem Tourismus – also der Besichtigung von Orten, an denen Menschen gestorben sind oder Schmerz erfahren haben: Auschwitz, Fukushima, Kambodschas „Killing Fields“, markante Kriegsschauplätze in Syrien oder im Irak.

Einer der führenden Köpfe der „Dark Tourism“-Szene ist Peter Hohenhaus. Der gebürtige Hamburger jagt seit vielen Jahren dem ganz großen Kick nach. Tschernobyl steht auf seiner persönlichen Horrorliste ganz oben, aber auch die Völkermordgedenkstätte Murambi in Ruanda und Pjöngjang im abgeschotteten Nordkorea haben ihn beeindruckt. „Ich finde Dark Tourism einfach interessanter als die typischen, von Reiseführern verordneten Standardprogramme von Palästen, Kathedralen und Kunstgalerien“, sagt Hohenhaus. Er betreibt eine Webseite, auf der er Tipps gibt. Anstößig findet er das nicht, Dark Tourism ist für ihn Bildungsurlaub. Er habe durch seine Reisen mehr über die Welt gelernt als während seiner Schul- und Unizeit.

Auch die Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Phänomen. Philip R. Stone, Direktor des „Dark-Tourism-Instituts“ an der Universität von Lancashire in England, glaubt, der Todestourismus wirke wie eine Frischzellenkur: Die Konfrontation mit dem Tod stärke das eigene Moralempfinden.

Selfie vor der Gaskammer, Picknick im Mahnmal

Zur Wahrheit gehört indes auch, dass sich nicht alle Todestouristen wie Bildungsreisende benehmen. Peter Hohenhaus kann von vielen Pietätlosigkeiten erzählen, sogar in Konzentrationslagern: Er berichtet von Schokolade mampfenden Gruppen in Sachsenhausen und Graffiti-Sprühern in Auschwitz. Erinnerungsfotos von der Gaskammer? „Ich vertrete da einen strikten Anti-Selfie-Standpunkt.“ Deutschland ist mit seinen Hinterlassenschaften aus zwei Weltkriegen, dem Kalten Krieg und dem DDR-Regime besonders betroffen von obszönen Dark Tourists. Peter Eisenmann, der Architekt des Berliner Holocaust-Mahnmals, prophezeite schon vor der Eröffnung 2005: „Menschen werden in dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden.“ Der Architekt hatte recht – schlafende, essende und laut lachende Besucher gehören auf dem Areal längst zum Alltag.

Es ist ein schmaler Grat zwischen Bildungshunger und Sensationsgier. In den Ruinen von Tschernobyl haben die Touranbieter indes keine allzu großen Berührungsängste. Sie werben damit, Touristen könnten nach ihrem Besuch viele Geschichten erzählen – Geschichten aus einem Katastrophengebiet.