Washington.

Gaffer, die nach schweren Verkehrsunfällen Einsatzkräfte behindern und sich an der Tragik anderer ergötzen. Passanten, die tatenlos zuschauen oder einfach wegsehen, wenn vor ihren Augen ein Mensch in Not gerät oder gar um sein Leben kämpft. Beispiele für kollektiven Em­pathieverlust gibt es auch in Amerika – nahezu jeden Tag. Aber kein Fall hat zuletzt so viel Empörung ausgelöst wie der Tod des Familienvaters Jamal Dunn.

Der 31-jährige Afroamerikaner ertrank am 9. Juli in einem großen Teich in Cocoa im Bundesstaat Florida. Fünf Teenager zwischen 14 und 18 saßen am Ufer, sahen zu, kifften, lachten, beschimpften und filmten den mehrfach um Hilfe schreienden Gehbehinderten. Bis er unterging. Danach stellen sie das zweieinhalb Minuten lange Handyvideo ins Internet. Angehörige des Mannes, der fünf Tage im Wasser trieb, bis er gefunden wurde, entdeckten das nur schwer zu ertragende Dokument der Verrohung. Sie fordern eine empfindliche Strafe. „Wenn die als Jugendliche mit ansehen können, wie jemand vor ihren Augen stirbt, stellt euch vor, was sie tun werden, wenn sie älter werden“, sagte Simone McIntosh, die Schwester des Opfers, Lokalzeitungen der 18.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Orlando.

Die Teenager zur Rechenschaft zu ziehen, die laut Polizei bei ihren ersten Vernehmungen wenig bis keine Reue zeigten, wird aber nicht einfach. Sie haben de facto keine Straftat begangen.

Florida gehört zu den vielen US-Bundesstaaten, die nicht kennen, was etwa in Deutschland Paragraf 323c des Strafgesetzbuches „mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft“: unterlassene Hilfeleistung in „Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not, obwohl dies erforderlich und den Umständen nach zuzumuten ist“.

Im Fall Jamal Dunn wäre es ein Leichtes gewesen, ihn vor dem Tod zu bewahren, sagen Ermittler. Ein Anruf unter 911, der Polizei-Notrufnummer. Ein gemeinsamer Rettungsversuch. Stattdessen rufen sie ihm zu: „Niemand wird dir zur Hilfe kommen, du blödes Miststück.“ Oder: „Du hättest da eben nicht reingehen sollen.“ Und schließlich: „Jetzt ist er gestorben.“

Es sind diese sprachlos machenden Sätze, durchsetzt mit vielen Lachern, die man beim Ansehen des Videos hört und die Henry Parrish III. zur Verzweiflung bringen. „Es gibt keine Worte für die Gewissenlosigkeit dieser jungen Menschen“, sagte Cocoas Bürgermeister.

Er sprach von einem „isolierten Akt unsäglicher Unmenschlichkeit“ und stellte sich hinter Bezirksstaatsanwalt Phil Archer, der die Jugendlichen über einen Umweg (mit Haftstrafen bis zu einem Jahr) doch noch zur Verantwortung ziehen möchte. „Es gibt ein wenig bekanntes Gesetz in Florida, das vorschreibt, der Polizei einen Todesfall zu melden. Das haben diese Teenager nicht getan“, sagt Polizeisprecherin Yvonne Martinez. Sie sind geflohen, nachdem Jamal Dunn untergegangen war. Was sind die Ursachen dafür, dass die Teenager offenbar kein Mitgefühl entwickelten? Die Psychologin Vicki Panaccione versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Sie glaubt, dass Kinder und Jugendliche heutzutage auch durch das Internet mit Gewalt und Aggression und Leid „bombardiert“ würden. „Das desensibilisiert.“ Ihr Kollege Laurence Miller sieht in dem Fall eine Form von „Sadismus“ und „Kaltblütigkeit“. Eltern müssten dies zum Anlass nehmen, ihre Kinder gegen Grausamkeit zu immunisieren.

Gewaltvideos im Internet sollen kaltblütig machen

Dabei ist das Phänomen des Zuschauereffekts längst nicht neu. John Darley und Bibb Latané, zwei New Yorker Psychologen, beschrieben schon vor 50 Jahren das „Genovese-Syndrom“. Dabei ging es um den Fall der Kitty Genovese, einer jungen Frau, die 1964 in New York ermordet worden war. Imsgesamt 38 Nachbarn und Passanten, schrieb die Zeitung „New York Times“ zu Zeiten des legendären Chefredakteurs A. M. Rosenthal, sollen beobachtet haben, wie der Täter Winston Moseley auf Kitty Genovese einstach, zwischendurch von ihr abließ und die Halbtote dann erneut attackierte. 40 Minuten dauerte das Martyrium. Niemand half.