Berlin.

Es passiert häufig an Freitagabenden oder vor Feiertagen: Ein Patient kommt in eine volle Arztpraxis, kurz vor Ende der Sprechstunde, und bittet um ein Schmerzmittel. Er habe einen Unfall gehabt oder chronische Schmerzen, er müsse an diesem Wochenende arbeiten und der Hausarzt sei gerade im Urlaub. Zum Beweis hat der Patient eine leere Packung des Medikaments dabei, das er haben möchte: Fentanyl. Das Opioid ist ein häufig verschriebenes Mittel zur Schmerztherapie – und für immer mehr Menschen eine tödliche Droge.

Fentanyl ist ein synthetisches Opioid, das in Deutschland hauptsächlich in Pflasterform und vor allem zur Behandlung von Krebspatienten und bei chronischen Schmerzen eingesetzt wird. Opioide spielen eine wachsende Rolle in der Schmerztherapie: So ist die Menge der verschriebenen Opioide laut „Jahrbuch Sucht 2017“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zwischen 2006 und 2015 um rund ein Drittel gestiegen. Gemeinsam ist den Mitteln das hohe Abhängigkeitspotenzial. So auch bei Fentanyl, das mehr als 80 Mal so stark wirkt wie Morphin und einen heroinähnlichen Effekt hat.

Das Risiko einer tödlichen Überdosierung ist hoch

Suchtkranke lassen sich das Medikament verschreiben von Ärzten, die nichts von ihrer Abhängigkeit wissen, oder fischen benutzte Schmerzpflaster aus dem Müll von Krankenhäusern. Sie zerschneiden sie, kochen den Wirkstoff aus und injizieren ihn sich mit einer Spritze, berichten Experten. Manche legen sich auch Teile der Pflaster unter die Zunge, um das Fentanyl über die Schleimhaut aufzunehmen.

Für die Konsumenten ist dabei kaum abzuschätzen, wie viel von dem Wirkstoff sie auf diese Art zu sich nehmen. Das Risiko einer Überdosis, gefolgt von einem tödlichen Atemstillstand, ist hoch. „Man kann das aus Pflastern gewonnene Fentanyl nicht so dosieren, dass ein risikoarmer Konsum möglich ist“, sagt Beate Erbas von der Bayerischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen (BAS). „Die Suchtkranken wissen das zum Teil auch, lassen sich aber nicht davon abhalten.“

Erbas und ihre Kollegen warnten schon 2014, dass die Droge unter Nutzern rasch Verbreitung findet. In einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt wiesen sie darauf hin, dass der Anteil der drogenbedingten Todesfälle, bei denen Fentanyl eine Rolle spielt, allein in Bayern zwischen 2008 und 2013 um 23,5 Prozentpunkte gestiegen war.

Dieser Trend lässt sich auch bundesweit beobachten: Zählte das Bundeskriminalamt (BKA) 2011 noch 58 Todesfälle im Zusammenhang mit Fentanyl, waren es 2016 schon 90. Da oft nicht automatisch auf die Droge als Todesursache getestet wird, geht das Amt jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus. „Fentanylmissbrauch auf Konsumentenebene stellt in Deutschland ein nicht zu vernachlässigendes Problem dar“, so eine Sprecherin.

Auch international ist Fentanyl ein Problem. Im April starb der Musiker Prince in seiner Heimat Minnesota an einer versehentlichen Überdosis des Medikaments. Der Superstar ist eines von Tausenden Opfern einer grassierenden Opioid-Epidemie in den USA. Tödliche Überdosen sind dort mittlerweile die führende Todesursache von Menschen unter 50. Das Fachblatt „New England Journal of Medicine“ berichtet von täglich 90 Todesfällen durch Überdosierung in den USA.

In Europa finden Fentanyl und seine Derivate auch zunehmend Absatz. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) in Lissabon, die den Markt und die Verbreitung von illegalen Suchtmitteln beobachtet, verfolgt derzeit die Verbreitung von 19 neuen Fentanylderivaten. Allein acht dieser Substanzen tauchten 2016 zum ersten Mal im Frühwarnsystem der EU-Behörde auf. „Das ist nie dagewesen, wir sind sehr besorgt“, sagt Michael Evans-Brown von der EBDD.

Vor allem, weil die Konsumenten nicht immer wissen, dass sie Fentanyl konsumieren. Neben dem Missbrauch des Medikaments, wie er vor allem in Deutschland verbreitet ist, taucht der Stoff immer häufiger auch auf dem Schwarzmarkt auf. Bei 600 Sicherstellungen von neuen synthetischen Opioiden im Jahr 2015 handelte es sich in mehr als 60 Prozent der Fälle um Fentanyl. Auch Heroin werde beispielsweise mit Fentanyl gestreckt, sagt Evans-Brown, häufig ohne dass die Käufer davon wüssten. Das Risiko von tödlichen Überdosen ist in diesen Fällen immens.

Die EBDD, die in ihrer Beobachtung der europäischen Drogenszene Daten aus 28 EU-Ländern sowie Norwegen und der Türkei auswertet, wird Fentanyl deshalb im Auge behalten. Es gehe darum, dass Potenzial der Drogen zu kennen, um reagieren zu können, bevor sie ein noch größeres Problem werden. „In einer globalisierten Welt und auf einem globalisierten Drogenmarkt können Veränderungen sehr schnell passieren“, sagt Evans-Brown.

Ärzten in Deutschland bleibt nur die Vorsicht, wenn ihnen unbekannte Patienten nach dem Schmerzmittel fragen – Fragen zu stellen, sich ein bereits klebendes Pflaster zeigen zu lassen und im Zweifel die kleinstmögliche Menge zu verschreiben. In Fällen, in denen fremde Patienten auftauchen, kurz vor Ende der Sprechstunde, eine leere Packung in der Hand, und auf Verschreibung der Schmerzmittel drängen, rät Beate Erbas deshalb zur Vorsicht. „Wenn so etwas vorkommt“, sagt sie, „sollte man hellhörig werden.“