Tiflis.

Das Eliava-Institut hat schon bessere Zeiten gesehen. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges lieferte es Phagen-Medikamente in die gesamte Sowjetunion, hergestellt von Hunderten Mitarbeitern in einer eigenen Produktionsabteilung. Heute gibt es keine Produktionsabteilung mehr. Das Gebäude, in dem die Apotheke und eine kleine Klinik untergebracht sind, könnte einen Anstrich vertragen. Im Treppenhaus bröckelt der Putz.

Allerdings ging es dem Institut auch schon schlechter. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Georgischen Bürgerkrieg (1991–1993) war es nahezu ruiniert. Nun wird die Klinik mit Geldern aus den USA und von Geräten aus der EU unterstützt. Es interessierten sich immer mehr Forscher aus dem Westen für die Arbeit der Wissenschaftler in Georgien, sagt Institutsdirektorin Dr. Mzia Kutateladze. „Noch vor 15 Jahren wurden wir für Verrückte gehalten. Wir haben lediglich auf ein paar Konferenzen Vorträge gehalten. Mittlerweile wird es immer deutlicher, dass Antibiotika versagen, und man sucht nach Alternativen.“

Zentimeter für Zentimeter schritt die Lähmung voran

Doch nicht nur unter Forschern spricht sich die georgische Phagentherapie herum. „Wir stoßen langsam an die Grenzen unserer Klinik“, sagt Kutateladze. Sieben Ärzte und drei Pfleger arbeiten in der Praxis, die aus nicht mehr als einem Wartezimmer, einem langen Gang und einem halben Dutzend winziger Behandlungszimmer besteht. „Im Juli 2016 hatten wir 16 Patienten aus dem Ausland. Daneben läuft die Versorgung der einheimischen Patienten.“

Für die Patienten aus Deutschland und anderen westlichen Staaten ist das Institut in Tiflis häufig die letzte Station einer medizinischen Odyssee. So wie für Michael Snidecor. Der Israeli lässt sich zum zweiten Mal mit Phagen behandeln. Grund seines Leidens ist eine alte Kriegsverletzung: „1968 wurde ich in Vietnam von der Explosion einer 122-Millimeter-Rakete am Bein erwischt“, erzählt der in Michigan geborene Doktor der Psychologie und Experte für Schmerztherapie. Die Wunde heilte zunächst, doch waren Bakterien ins Knochenmark gelangt – Osteomyelitis. Die Folge: ein jahrelanges Leiden.

Auf dem Höhepunkt der Erkrankung habe der Keim auch das Rückenmark infiziert und eine Lähmung verursacht. „Ich habe rund um die Uhr intravenös Antibiotika bekommen. Trotzdem musste ich zusehen, wie die Lähmung Zentimeter für Zentimeter voranschritt“, sagt Snidecor. In einer Verzweiflungstat sei seine Frau dann nach Georgien gereist und habe einen Phagen-Cocktail mitgebracht, den er sich in Israel illegal selbst injizierte. „Die Phagen haben mir das Leben gerettet.“

Doch obwohl die Lähmung verschwand und sein Bein verlorene Funktionen zurückgewann, konnte Snidecors Osteomyelitis nie vollständig geheilt werden. Auch Hauttransplantationen halfen nicht dauerhaft. Nach einem schweren Autounfall Anfang 2016 gelangte die Infektion erneut ins Rückenmark, und auch die Wunde öffnete sich wieder. Nun hofft der Israeli, dass die Phagen ihn noch einmal retten können. Während seines Aufenthalts in Georgien wird die Wunde immer wieder mit Wasserstoffperoxid gereinigt und anschließend mit einer Phagenlösung behandelt. Für zu Hause hat er sich zudem mit Medikamentenschachteln aus der Apotheke eingedeckt.

„Seine Begeisterung geht auch uns etwas zu weit“, sagt Dr. Naomi Hoyle vorsichtig. Die Amerikanerin ist die Ansprechpartnerin des Instituts für ausländische Patienten. Sie ist von der Wirksamkeit der Phagentherapie überzeugt, warnt aber vor überzogenen Hoffnungen: „Es funktioniert nicht immer. Phagen sind kein Wundermittel.“

Doch genau das ist es, was viele der ausländischen Patienten suchen. „Grundsätzlich können wir keine Garantien geben. Viele Patienten fragen nach der Erfolgsrate. So etwas gibt es nicht. Wir haben zwar viele Erfolge, aber jeder Fall ist so individuell, dass sich daraus keine allgemeine Aussage machen lässt“, gibt Kinderärztin Hoyle zu bedenken. Manche Patienten müsse die Klinik auch abweisen. Gegen Tuberkulose etwa wurde bisher kein wirksamer Phage gefunden. Auch die Borreliose lässt sich auf diese Weise nicht behandeln, weil die Bakterien ins Innere der Körperzellen eindringen und dort vor Phagen geschützt sind.

Die meisten ausländischen Patienten werden aber angenommen. Auch bei schwer zu behandelnden Infektionen wie Osteomyelitis sind die georgischen Ärzte überzeugt, helfen zu können. 3900 Dollar kostet die 14-tägige Standardbehandlung. Geld, das das Institut gut gebrauchen kann. „Die Klinik ist Teil der Eliava-Stiftung, einer gemeinnützigen Organisation, die keine Gewinne erzielt. Überschüsse fließen an die Stiftung, die entscheidet, was damit geschieht, und ob sie beispielsweise in die Forschung investiert werden“, sagt Hoyle. Diese Forschung besteht unter anderem aus der Suche nach neuen Phagen, die für die Therapie genutzt werden können. Dafür sammeln die Wissenschaftler Bodenproben aus der Umwelt und testen, ob sich in ihnen Phagen befinden, die im Labor angezüchtete Bakterienkulturen zerstören.

Auch Phagen, deren Erbgut noch nicht sequenziert wurde, kommen in Georgien zum Einsatz. „Wir stellen aber sicher, dass wir ausschließlich lytische Phagen verwenden“, sagt Institutsleiterin Mzia Kutateladze. Die Patienten bekommen also ausschließlich Viren verabreicht, die die Bakterien, die sie infizieren, auch zerstören, statt ihr Erbgut in ihnen einzulagern. Dies vorausgesetzt, sieht Kutateladze keine Gefahren der Therapie: „Während der Sowjetzeit wurde nach Risiken gesucht, ohne dass welche gefunden werden konnten. Selbst bei intravenöser Anwendung nicht. Das liegt daran, dass Phagen so spezifisch wirken.“

Doch die Behörden in der EU und den USA konnte dies bisher nicht überzeugen. Sie verlangen das Zulassungsverfahren mit mehrjährigen klinischen Studien nach strengen wissenschaftlichen Standards. „In der Sowjetunion gab es keine doppelt verblindeten, randomisierten, kontrollierten Studien. Die in unserem Archiv gesammelten Erfahrungen basieren vor allem auf Fallberichten“, erklärt Kutateladze. Das macht die vielen Akten des Instituts letztlich zu nicht mehr als einer Sammlung medizinischer Anekdoten – keine ausreichende Evidenz für Sicherheit und Wirksamkeit.

Dennoch sieht die Direktorin Fortschritte. „Ich werde optimistischer, weil immer mehr Länder sich interessieren. Vielleicht muss die Phagentherapie durch einen Genehmigungsprozess wie bei Biopharmazeutika. Vielleicht wird sie als personalisierte Medizin zugelassen, was ein wichtiges Zukunftsfeld in der Medizin ist.“ Auch Naomi Hoyle hegt solche Hoffnungen: „Phagen sollten eine von mehreren zugänglichen Alternativen zu Antibiotika für Patienten überall auf der Welt sein“, fordert sie. Auch im Westen gebe es bereits Therapien, die nicht die strengen Standards der evidenzbasierten Medizin erfüllen müssten. Womöglich könnten Phagen als alternative Heilmethode wie Traditionelle Chinesische Medizin eingestuft und reguliert werden.

Welche Entwicklung die Phagentherapie in westlichen Gesundheitssystemen auch nehmen mag, für Patienten wie Michael Snidecor wird sie zu spät kommen. Heute, ein halbes Jahr nach der erneuten Behandlung in Tiflis, geht es ihm besser. Die Wunde sei kleiner geworden, schreibt er in einer Mail. Ganz geschlossen habe sie sich aber nicht. Außerdem habe er sich eine neue Infektion eingefangen. Das haben Phagen mit Antibiotika gemeinsam: Wunderheilungen sind nicht garantiert.

Der Autor hat für seine Recherche zum Thema Phagen ein Robert-Bosch-Stipendium erhalten. Dies ist der letzte Teil der Berichterstattung