London.

Ein Hochhaus, eingehüllt in Flammen. Panische Hilfeschreie. Menschen, die von ihren Balkonen in die Tiefe springen oder stürzen. Was sich am Mittwoch in einem Sozialwohnungsbau unweit des Londoner Zentrums ereignet hat, ist ein Inferno. Bei dem Brand kamen nach vorläufigen offiziellen Angaben mindestens zwölf Menschen ums Leben. Unzählige werden noch vermisst. Die Zahl der Toten dürfte aber noch steigen – das Haus ist derart stark zerstört, dass sich die Bergungsarbeiten mehrere Tage hinziehen werden.

Das gewaltige Feuer war in der Nacht zu Mittwoch ausgebrochen. Um 0.54 Uhr wurde die Londoner Feuerwehr benachrichtigt: Brand im „Grenfell Tower“, einem 24-stöckigen Gebäude in Nord-Kensington. Innerhalb von sechs Minuten traf der erste Löschzug ein, im Laufe der Nacht rückten mehr als 40 Löschzüge und über 200 Feuerwehrleute an. Das Feuer breitete sich trotzdem rasant aus: Bereits zwei Stunden nach dem ersten Notruf brannte beinahe der komplette Wohnblock wie eine Fackel. Bis Mittwochabend wurden mindestens 79 Menschen in Krankenhäusern behandelt. 18 von ihnen befinden sich den Rettungskräften zufolge in einem kritischen Zustand. Nachdem die Flammen gelöscht waren, kämpften sich Feuerwehrleute auf der Suche nach weiteren Opfern unter schwierigen Bedingungen Etage für Etage nach oben. Ein Polizeisprecher bezeichnete die Bergungsarbeiten als „komplex“. Auf Fotos ist zu sehen, dass das Feuer offenbar in nahezu jede Wohnung vorgedrungen ist. Für mehrere Bewohner wurde das Gebäude zur tödlichen Falle. Es spielten sich furchtbare Szenen ab. Der Fluchtweg aus dem Gebäude führte über ein Treppenhaus, doch das wurde von Flammen und Rauch verschlungen. In den höheren Stockwerken waren Menschen gefangen. Augenzeugen sahen Menschen, die von ihrem Balkon in die Tiefe sprangen. „Die Menschen haben verzweifelt an die Fenster geschlagen und geschrien“, berichtete Samira Lamrani, die das Unglück überlebt hat. In den höheren Stockwerken erschienen Kinder an den Fenstern, die das Licht ihrer Handys ein- und ausschalteten, um zu signalisieren: Wir sind hier, rettet uns. Doch die Feuerwehr konnte nicht allen in ihrer Wohnung Gefangenen helfen: Die Leitern reichten höchstens bis zum zehnten Stock.

Eine besonders dramatische Situation schilderte Augenzeugin Samira Lamrani gegenüber Reportern. Eine verzweifelte Mutter habe ihr Baby aus dem neunten oder zehnten Stockwerk fallen lassen, um es zu retten: „Eines der Fenster wurde einen Spalt geöffnet und eine Frau deutete an, ein Baby hinauszuwerfen. Ein Mann ist an das Gebäude gelaufen und hat es tatsächlich gefangen!“ Augenzeugen zufolge warfen auch andere Eltern in ihrer Verzweiflung ihre Kinder aus dem brennenden Hochhaus.

Womöglich war defekter Kühlschrank die Ursache

Der Grenfell Tower wurde im Jahr 1974 erbaut und von 2014 bis 2016 für umgerechnet 9,7 Millionen Euro renoviert. In dem 67 Meter hohen Appartementhaus mit 120 Wohnungen sollen viele Familien mit Kindern gelebt haben. Die Behörden schlossen einen Terroranschlag aus, lehnten aber Spekulationen über die Brandursache ab. Eine mögliche Erklärung lieferte Mahad Egal, der im vierten Stock wohnt. Sein Nachbar, sagte er gegenüber der BBC, habe ihm erzählt, dass dessen Kühlschrank explodiert sei und den Brand ausgelöst habe. Egal ist Vater eines drei- und eines vierjährigen Kindes. Er war gegen ein Uhr nachts aufgewacht, weil jemand gegen die Wohnungstür klopfte. Einen Feueralarm habe er nicht gehört. Egal wickelte seinen Kindern nasse Handtücher um den Kopf und flüchtete mit ihnen und seiner Frau über die Treppen nach unten: „Alles war dunkel, alles war voller Rauch. Wir gehörten zu den ersten, die es aus dem Gebäude geschafft haben.“ Später sei die Treppe nicht mehr betretbar gewesen.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan versprach umfassende Aufklärung. Anwohner erheben schwere Vorwürfe gegen die Wohnungsgesellschaft, die das Gebäude im Auftrag der Kommune Kensington managt: Das Desaster sei absehbar gewesen, es habe schwere Brandschutzmängel gegeben. Khan sagte: „Es wird über die nächsten Tage sehr viele Fragen über die Ursachen dieser Tragödie geben, und ich möchte den Londonern versichern, dass wir die Antworten finden.“

Warum konnte sich das Feuer so schnell ausbreiten? Warum war kein Feueralarm zu hören? Anscheinend hat die erst kürzlich angebrachte neue Fassadenverkleidung eine zentrale Rolle dabei gespielt, wie sich der Brand an der Außenseite des Gebäudes nach oben ausbreiten konnte. Zwischen Wohnungsgesellschaft und den Bewohnern gab es wiederholt Streit. Mehrere Mieter gaben an, das Unternehmen habe „nie auf uns gehört“.

Die Baufirma Rydon reagierte schockiert auf den Brand. Sie war für die Sanierung des Towers zuständig. Alle erforderlichen Kontrollen, Bestimmungen im Brandschutz und die sonstigen Sicherheitsstandards seien eingehalten worden, versicherte die Firma.

Tatsächlich hat die „Grenfell Tower Action Group“, ein Zusammenschluss von Mietern, regelmäßig und über Jahre hinweg gewarnt, das Hochhaus könne zur Feuerfalle werden. So wies die Initiative im November 2016 in einem Internetblog auf eine „Vernachlässigung von Arbeits- und Gesundheitsschutzvorschriften“ hin und ahnte: „Nur eine Katastrophe wird die Unfähigkeit und Inkompetenz unseres Vermieters aufdecken.“ Diese Katastrophe ist nun eingetreten.

Auch in Deutschland hat das Feuer eine Diskussion um Gebäudesicherheit ausgelöst. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kündigte im Gespräch mit dieser Redaktion an, die energetische Gebäudesanierung auf den Prüfstand stellen zu wollen. „Ein vergleichbarer Fassadenbrand an einem Hochhaus ist in diesem Ausmaß bei uns so gut wie ausgeschlossen. Wir nehmen das jedoch zum Anlass und werden überprüfen, ob die aus energetischen Gründen geforderte Außendämmung eine zusätzliche Brandgefahr auslöst“, sagte Herrmann.