München.

Als sich die Polizisten auf den Weg machen, können sie noch nicht ahnen, wie dramatisch dieser vermeintliche Routineeinsatz verlaufen wird. Gegen 8.20 Uhr am Dienstagmorgen waren mehrere Notrufe bei der Münchener Polizei eingegangen – Fahrgäste berichteten von einer Schlägerei in der S-Bahn. Eine Streife rückt aus zum Bahnhof Unterföhring. Kurze Zeit später liegt eine Polizistin nach einem Kopfschuss blutend am Boden, zwei Passanten werden ebenfalls von Kugeln verletzt.

Die Beamtin schwebte am Dienstagabend noch in Lebensgefahr. Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins rekonstruiert das Geschehen so: Am Bahnsteig treffen die beiden Streifenpolizisten auf die S-Bahn-Randalierer. Einer von ihnen, ein 37-Jähriger aus dem Münchener Umland, versucht, einen Polizeibeamten vor einen einfahrenden Zug zu stoßen. Es kommt zum Kampf, beide stürzen. „Bei der Rangelei am Boden ist es dem Täter gelungen, sich der Dienstwaffe des Kollegen zu bemächtigen“, sagt da Gloria Martins. Der 37-jährige Mann schießt auf die Streifenpolizistin, 26 Jahre jung, und trifft sie am Kopf. Die Frau schießt ebenfalls und verwundet ihn. Ob die Polizistin den Schuss schwer verwundet abgab oder ob sie bereits abdrückte, bevor die Kugel sie am Kopf traf, wird noch untersucht. Fest steht: Der Täter feuert das Magazin leer, zwei Passanten werden getroffen – wahrscheinlich von ihm. Sie erleiden Durchschüsse am Arm und am Bein. Anschließend flieht der Mann. Die Polizei schickt Verstärkung, zwischenzeitlich sind rund 200 Beamte im Einsatz. Sie stellen den Täter wenig später vor einem Bürogebäude. Er sei durch seine Schussverletzung bereits gehandicapt gewesen, sagt da Gloria Martins. Die 26-jährige Polizistin hat womöglich Schlimmeres verhindert.

Die Staatsanwaltschaft München I beantragte noch am Dienstag Haftbefehl wegen versuchten Mordes. Der Täter hat keinen gemeldeten Wohnsitz. Vor einigen Jahren wurde er mit einer geringen Menge Cannabis erwischt, ansonsten hatte er sich bislang nichts zuschulden kommen lassen.

2017 wurden schon zwei Polizisten im Dienst getötet

Einmal mehr wurden Polizisten Opfer einer Gewalteruption. Im Februar hatte in Brandenburg ein Mordverdächtiger auf der Flucht zwei Beamte überfahren und getötet. Ebenfalls am Dienstag wurden Polizisten auf einer Kirmes in Wuppertal (NRW) so sehr von aggressiven Jugendlichen bedrängt, dass sie Verstärkung rufen mussten. Polizeigewerkschafter beklagen regelmäßig, der Polizeiberuf werde immer gefährlicher. Die Statistik widerspricht jedoch diesem Eindruck. So sei zwischen 2012 und 2014 kein Beamter im Dienst getötet worden, sagt der Hamburger Polizeiwissenschaftler Rafael Behr. Er verweist darauf, dass die Bewaffnung von Polizisten einen Risikofaktor darstelle. „Die Bobbys in Großbritannien tragen traditionell keine Schusswaffen. Dort argumentiert man: Die Nichtbewaffnung trägt dazu bei, mich selbst zu schützen“, so Behr. Unklar ist, wie der Täter aus Unterföhring an die Waffe des Polizisten gelangte. Grundsätzlich sind sowohl die Pistole als auch das Holster so gesichert, dass ein Laie die Waffe nicht einfach herausnehmen und damit feuern kann.

Erleben wir eine Brutalisierung der Gesellschaft? „Dem ersten Anschein nach ja“, sagt Polizeiwissenschaftler Behr. Anhand von Zahlen ist das indes nicht zu belegen. Gewaltausbrüche gebe es in jeder Gesellschaft immer wieder, sie rückten nur immer stärker in den Fokus. „Was zugenommen hat, ist nicht die Gewalt, sondern die Zahl der Smartphones, über die Bilder und Nachrichten verbreitet werden.“ Allerdings: „In letzter Zeit hat es die Polizei häufig mit Menschen zu tun, die Psychosen haben oder in einem psychischen Erregungszustand sind.“

In München bangen die Polizisten nun um das Leben ihrer jungen Kollegin. Über eine psychische Erkrankung des Täters ist laut Staatsanwaltschaft nichts bekannt.