Berlin.

Antibiotika sind ein Grundpfeiler der modernen Medizin. Nicht nur alltägliche Infektionen werden damit behandelt, auch viele Operationen wären ohne die vorbeugende Unterdrückung bakterieller Erreger kaum denkbar. Doch dieser Grundpfeiler droht zu kollabieren. Immer mehr Erreger entwickeln Resistenzen gegen Wirkstoffe.

Im ewigen Krieg der Mikroorganismen entwickeln Pilze und Bakterien ständig neue Waffen gegeneinander – und Mechanismen, um sich dagegen zu verteidigen. Ein natürlicher Prozess. Doch mit dem massenhaften Einsatz von Antibiotika nimmt der Mensch Einfluss auf diese Prozesse: Die für Bakterien tödliche Umgebung in einem mit Antibiotika behandelten Lebewesen erzeugt einen Selektionsdruck. Zufällige Mutationen, die Resistenz gegen die Wirkstoffe vermitteln, werden zum Überlebensvorteil.

Die Folge: Resistente Keime setzen sich gegen anfällige Bakterien durch und vermehren sich. „Es gibt einen Krieg zwischen Menschen und Mikroben“, fasste es Steve Solomon von der US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention 2015 zusammen. „Aber die Mikroben haben drei Milliarden Jahre Erfahrung. Wir nur 70.“

Mehr Tote im Jahr 2050 als durch Unfälle und Krebs

Jedes Jahr sterben weltweit etwa 700.000 Menschen an Infektionen mit resistenten Keimen, davon 50.000 in Europa und den USA. Eine Untersuchung im Auftrag der britischen Regierung von 2014 kam zu dem Ergebnis, dass bei Fortschreiben der aktuellen Entwicklung im Jahr 2050 mit weltweit zehn Millionen Toten durch resistente Erreger zu rechnen wäre – weit mehr als durch Verkehrsunfälle und sogar Krebs.

Daher sind Wissenschaftler auf der Suche nach einer Bekämpfung von Bakterien ohne den Einsatz von Antibiotika. Bei der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig wird man in der Natur fündig. „Wir sammeln Proben aus der Umwelt, aus Flüssen, Teichen, Tümpeln, Klärwasser, Kanalisation, Erde“, sagt Dr. Christine Rohde. Denn überall dort kämen potenziell krankheitserregende Mikroben vor – und ihre natürlichen Gegenspieler, die für die Forschung interessant sind.

Rohde ist Kuratorin der Bakteriophagen-Sammlung der DSMZ. Bakteriophagen (dt.: Bakterienfresser), kurz Phagen, zählen zu den Viren. Nur infizieren sie keine Zellen von Menschen oder Tieren, sondern Bakterien. Wie ihre Beute gibt es sie überall – allerdings zehnmal so häufig. Phagen sind der häufigste Organismus auf diesem Planeten. „Nach dem Sammeln der Proben legen wir eine Anreicherungskultur an, das heißt, wir kultivieren den Bakterienstamm und geben dann die filtrierte Wasserprobe dazu. Wenn man Glück hat, zeigen sich nach einiger Zeit Phagen-Plaques, Löcher im Bakterienrasen, aus denen die Phagen isoliert werden können“, erklärt Rohde.

Jeder Phage verfügt über Teile, die genau zu Oberflächenstrukturen seines Wirts passen. Damit bindet er an Zellen einer spezifischen Bakterienart. Anschließend injiziert er sein Erbgut (DNA) durch die Zellmembran ins Innere des Bakteriums. Dort wird die DNA abgelesen und die Zelle so umprogrammiert, dass sie neue Phagen produziert. Am Ende wird das Bakterium zum Selbstmord gezwungen: Es produziert ein Enzym, das die Zellwand auflöst. Das Bakterium platzt und entlässt rund 200 Phagen, die sich auf die Suche nach neuen Wirten machen. „Anschließend bestimmen wir das Wirtsspektrum des Phagen und viele andere Parameter. Der letzte, komplizierteste und teuerste Schritt ist die Sequenzierung der DNA“, beschreibt Christine Rohde das Verfahren. Sind alle Eigenschaften ermittelt, wird er mit einer Nummer versehen. Wissenschaftler aus aller Welt können über die Nummer die Informationen einsehen und bei der DSMZ Phagen für ihre Forschung bestellen.

Als eine Art mikrobiologische Bibliothek sammelt die DSMZ bereits seit mehr als 25 Jahren Phagen. Seit einigen Jahren hat das Interesse am therapeutischen Einsatz der Viren stark zugenommen. Anfang 2016 wurde entschieden, die Phagen-Forschung an der DSMZ auszubauen. Die Arbeitsgruppe von Christine Rohde erhielt ein größeres Labor, Mitarbeiter wurden eingestellt. Mit rund 600 Bakteriophagen ist die Sammlung die größte in Deutschland. Sie soll künftig massiv ausgebaut werden.

Entdeckt wurden die Bakterien-Viren eigentlich bereits 1917 von dem kanadischen Biologen Félix Hubert d’Hérelle. Es folgten Jahrzehnte intensiver Erforschung und Erprobung von Phagen für medizinische Zwecke – die dann aber im Westen wieder beendet wurde. Ein Grund dürfte die Entdeckung des Penizillins und damit der Beginn des Antibiotika-Zeitalters gewesen sein.

In Osteuropa hingegen, wo Antibiotika rar waren, wurden Phagen weiterhin zur Behandlung von Infektionen eingesetzt. Ein Mitarbeiter d’Hérelles, der georgische Bakteriologe Georgie Eliava, hatte in Tiflis ein Institut für Phagenforschung gegründet, das bis heute Patienten mit Phagen behandelt. In der EU und in den USA ist eine solche Therapie nicht zugelassen. „Ich habe von Phagen zum ersten Mal im Studium gehört“, erinnert sich Christine Rohde. „Da waren sie Werkzeuge in der Genetik.“ Über eine therapeutische Nutzung wurde damals kaum nachgedacht. Das hat sich längst geändert. „Ich sehe sie als Beitrag zur Lösung des Problems der Antibiotikaresistenz“, sagt die Mikrobiologin.

Anwendung innerhalb der EU erst in fünf Jahren

Seitdem Phagentherapie häufiger in den Medien auftaucht, rufen immer wieder Patienten bei der DSMZ an. „Der Leidensweg ist da immer sehr lang, sonst würden sie nicht bei uns landen. Sie greifen nach dem letzten Strohhalm“, sagt Rohde. Doch helfen kann sie nicht. Die DSMZ darf keine Phagen für therapeutische Zwecke herausgeben. Sie kann lediglich auf das Institut in Georgien verweisen. Klinische Studien, politisches Handeln, EU-Zulassungsverfahren – „es geht alles viel zu langsam“, sagt die Forscherin. Für realistisch hält sie die Anwendung von Phagen innerhalb der EU erst in etwa fünf Jahren.

Trotz vieler Erfolge: Gegen einige wichtige Erreger konnten die Braunschweiger Forscher noch keine Phagen finden. Dazu zählen Legionellen, die unter anderem in Wasserleitungen und Klimaanlagen vorkommen und eine gefährliche Lungenentzündung auslösen. Aber die Mikrobiologin ist hoffnungsvoll. Womöglich finde man einmal sogar etwas für die Behandlung der Tuberkulose. „Gegen Mycobacterium tuberculosis Phagen zu haben, wäre ein Traum.“ Sie freue sich immer, wenn sie Plaques in den Bakterienkulturen entdecke. Fündig würden die Forscher sogar in unmittelbarer Nähe. „Unser Phage gegen Pseudomonas aeruginosa stammt aus dem Tümpel hinter dem Institut.“

Dort angekommen, wird das Gespräch philosophisch. „Die Natur schafft es irgendwie, Bakterien und Phagen im Einklang zu behalten“, sagt Christine Rohde und deutet auf den kleinen Teich, in dem unzählige der Organismen miteinander kämpfen. Denn weder rotten Phagen ihre Wirte vollständig aus, noch führen die stets neuen Abwehrmechanismen der Bakterien zum Ende der Viren. Schätzungen zufolge wird jeden Tag etwa die Hälfte sämtlicher Bakterien auf dem Planeten von Phagen zerstört. Menschen mögen erst seit etwa 100 Jahren aktiv in diesem Wettkampf der Mikroorganismen mitmischen, aber Forscher wie Christine Rohde sind entschlossen, den Erfahrungsrückstand aufzuholen.

Der Autor hat für seine Recherchen zum
Thema Phagen ein Robert-Bosch-Stipendium erhalten. Wir setzen die Berichterstattung fort.