Die Planer sagen: Wir können nicht mehr alle Gebäude finanzieren. Die Gläubigen sagen: Wir wollen unsere Heimat nicht verlieren. Die Pastoren stehen häufig dazwischen. 44 Gotteshäusern, die meisten im Hamburger Osten, droht die Schließung. Was kommt dann? Abriss, Verkauf, Umbaufür andere Zwecke? Peter Wenig hat tief in eine Krise hineingeleuchtet, in der es um weit mehr geht als um Steine, Stellen und Steuern. Auf dem Spiel stehen auch Zusammenhalt, Erinnerung und Seelenheil

Als Pastor Gerhard Janke den großen Bogen von der gottgewollten Opferung Isaaks über SS-Schergen bis zu den hungernden Kindern im Südsudan spannt, lugt die Sonne durch die mächtigen Glasbausteine im Westgiebel der Corneliuskirche in Fischbek. Konzentriert lauschen 113 Gläubige an diesem Sonntag unter dem zeltartigen Holzdach seiner Predigt. Eine halbe Stunde später zählt der Küster die Kollekte, während im Kirchenraum Wasser, Tee, Kaffee und Gebäck serviert werden. Der Kirchenmusiker packt seine Gitarre ein, spricht mit Chormitgliedern über die nächste Probe. Gerhard Janke setzt sich zu Helga Stehr und Hilda Thiemann (beide 83). „Herr Pastor, wenn unsere Kirche hier schließen sollte, wo sollen wir dann noch hin?“, fragt Stehr.

Kein anderer Satz kann an diesem Ort so irritieren. Seit Jahrhunderten steht Kirche für Heimat und Schutz. Doch ausgerechnet im Luther-Jahr berührt die evangelische Kirche in Hamburg nichts so sehr wie die drohende Schließung von 44 Kirchen sowie rund 50 Gemeindehäusern und Pastoraten. Nach dem Willen der Synode, des Parlaments der kirchlichen Selbstverwaltung, soll bis 2026 rund ein Drittel der 294 Gebäude des Kirchenkreises Hamburg-Ost aufgegeben werden.

Es ist ein Beschluss, der spaltet. Hier die Befürworter, die angesichts sinkender Gläubigenzahlen keine andere Alternative mehr sehen: Jedes Jahr verliert der Kirchenkreis 5500 Mitglieder, binnen 25 Jahren ist ihre Zahl von rund 658.000 auf 433.000 gesunken. Dort die Kritiker, die dem Kirchenkreis vorwerfen, den Niedergang durch die Aufgabe von Kirchen und Gemeindehäusern zu beschleunigen. „Es fehlt der Kirche am heiligen Geist“, wettern die Altpröpste Hans-Jürgen Müller und Helmer-Christoph Lehmann. Gotteshäuser aus Geldmangel zu schließen, das gehe gar nicht. Es sei sehr wohl möglich, Kirchen über Spenden zu erhalten.

Längst hat der Streit auch den politischen Raum erreicht. Bezirkspolitiker solidarisieren sich mit bedrohten Standorten, sie wissen, dass bei einer Aufgabe weit mehr auf dem Spiel steht als die Vermittlung der christlichen Lehre. Kirche, das ist im 21. Jahrhundert auch Flüchtlingshilfe, Posaunenchor, Altenhilfe, Kindergarten, Kirchenasyl, Seniorengymnastik, Gedächtnistraining und Popkonzert.

Darf man das alles riskieren?

Die Entscheider

Die kleine SOS-Bibel baumelt an einer Schnur in dem knarzenden Fahrstuhl an der Danziger Straße in St. Georg. Zu lesen sind dort Stoßgebete, die helfen sollen, wenn der Lift wieder mal stecken bleiben sollte.

Das Büchlein zeigt, dass Propst Hans-Jürgen Buhl, Vorsitzender des Kirchenkreisrats Ost, und Ilsabe Stolt, Geschäftsführerin für die strategische Gebäudeplanung im Kirchenkreis, ihren Sinn für Humor nicht verloren haben.

Buhl und Stolt steuern den wohl schwierigsten Prozess der jüngeren evangelischen Hamburger Geschichte. Wer anstrebt, jedes dritte kirchliche Gebäude aufzugeben, braucht starke Nerven. Zum Termin mit dem Abendblatt ist auch Propst Karl-Heinrich Melzer gekommen, der sich um Gebäudefragen im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein kümmert.

Melzer erzählt, wie er 1999 bei seinem Amtsantritt als Propst in Niendorf eher zufällig in Synodenpapieren aus den 1960er-Jahren blätterte. „Einer meiner Vorgänger wagte 1967 die Prognose, dass die Zahl der Gemeindemitglieder bis zum Jahr 2000 auf 200.000 steigen werde. Als ich die Studie las, hatten wir in Wahrheit noch 100.000 Mitglieder. Man hat also über Jahrzehnte Kirchen und Gemeindehäuser für einen Bedarf gebaut, der nie erreicht wurde.“

Wenn man so will, müssen Melzer, Buhl und Stolt nun die Fehlplanungen ihrer Vorgänger ausbaden – mehr als die Hälfte der Gebäude entstand nach 1949. Schuldzuweisungen lehnen sie dennoch ab. „Es gibt Entwicklungen, die kann man nicht vorhersehen“, sagt Buhl. Stolt kennt die Schlüsseldaten der Misere längst auswendig: „Die Pfarrstellen sind seit 1992 um 26 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Gemeindemitglieder sogar um 33 Prozent. Nur die Zahl der Gebäude wurde um nur 7,7 Prozent reduziert. Diese Unwucht schwächt Ortsgemeindearbeit überall im Kirchenkreis.“ Daher sei es wichtig, jetzt zu handeln. Wobei es Buhl sehr wichtig ist, klarzustellen: „Wir als Kirchenkreis schließen keine Kirche. Dies kann nur die betreffende Gemeinde als Gesellschaft öffentlich-rechtlichen Rechts.“

Über den passenden Hebel verfügt der Kirchenkreis indes sehr wohl. Monatelang bewerteten Experten jedes kirchliche Gebäude, vom Michel bis zum kleinsten Pastorat in den Vier- und Marschlanden. Ausschlaggebend waren vor allem Lage, architektonische Qualität, Zustand des Gebäudes sowie Größe der Gemeinde. Wer dann das Prädikat „C“ erhielt, wusste: Es gibt künftig kein Geld mehr vom Kirchenkreis, wenn die Heizung streiken sollte oder gar der Turm für einen sechsstelligen Betrag saniert werden muss. Und so verbirgt sich unter dem Stempel „nicht förderfähig“ das wahrscheinliche Sterben auf Raten.

Die Kirchenkreis-Manager verteidigen ihren Kurs. Warum Hunderttausende Euro in Gebäude stecken, die in dieser Dichte niemand mehr braucht? In Kirchen, für die es nicht mehr genügend Pastoren geben wird. 30 bis 50 Prozent der Stellen, so die Prognosen, können in zehn Jahren wegen Nachwuchsmangels nicht mehr besetzt werden.

Und doch weiß Buhl nur zu gut, dass ein Gotteshaus eben kein Supermarkt ist, den man einfach dichtmachen kann. Kirche, das heißt auch Erinnerung. An Taufen, Konfirmationen, Trauungen, Trauerfeiern. Daher hat ihn die Wucht der Diskussion auch nicht überrascht. „Es war uns klar, dass mit der C-Einstufung auch Kränkungen verbunden sind“, sagt Buhl. Dabei gelte das „C“ nur für das Gebäude und eben nicht für die Arbeit der Gemeinde. Ganz bewusst habe man das Gemeindeleben aus diesem Prozess ausgeblendet. „Wie wollen Sie dies auch objektiv bewerten?“, fragt Buhl.

Nur: Was wird jetzt aus den Gebäuden, die nicht mehr benötigt werden? Abreißen? Verkaufen? Umwidmen?

Propst Melzer vom Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein berichtet von einer „harten, aber heilsamen Lehrzeit“. Er sagt: „Viele dachten, andere christliche Gemeinschaften würden Schlange stehen und uns nicht benötigte Kirchen und andere Gebäude zu guten Preisen abkaufen. Das war aber nicht der Fall.“ Daher gründete der Kirchenkreis bereits vor zehn Jahren die Gesellschaften EvaBau und EvaImmo, die nicht mehr benötigte kirchliche Gebäude und Gemeindehäuser vor allem in Schulen, Kitas oder Pflegeheime umbauen.

Dem Kirchenkreis Ost werfen manche Pastoren hinter vorgehaltener Hand vor, er habe zu spät reagiert, müsse jetzt zu einer Hauruck-Aktion greifen. Stolt wehrt sich: „Wir haben alle Gemeinden mitgenommen. Der Prozess war transparent.“ Aber natürlich sei Ost als größter Kirchenkreis Deutschlands eine besondere Herausforderung.

Der Kirchenkämpfer

Den Moment, als der blaue Brief des Kirchenkreises eintraf, hat Pastor Janke bis heute nicht vergessen. „Natürlich wusste ich, dass es eng werden könnte. Dennoch war es ein großer Schock“, sagt Janke. Er weihte zunächst nur den Kirchengemeinderat ein. Als er Wochen später die Gemeinde informierte, war der gemeinsame Entschluss längst gefallen: Wir werden gegen das Urteil „nicht förderfähig“ kämpfen.

Janke teilt die Trauer und auch die Wut mit den vielen anderen betroffenen Pastoren. Doch nicht alle kämpfen mit offenem Visier, schließlich zahlt nicht die Gemeinde, sondern die Evangelische Kirche als Dienstherr ihr Gehalt. Manchen macht dieser Loyalitätskonflikt zu schaffen, sie baten daher auch in Gesprächen mit dem Abendblatt um den Schutz der Anonymität.

Pastor Janke von der Corneliuskirche tickt da anders, seit Monaten kämpft er auch medial gegen das drohende Aus. Gemeinsam mit den Kirchengemeinderäten hat Janke eine Stellungnahme verfasst. 20 Seiten, die es in sich haben. Die Gemeinde wirft dem Kirchenkreis „mangelnde Einbindung in den Entscheidungsprozess“ vor, spricht von „prozeduraler Notwehr“. Vor allem sei die Gemeindearbeit nicht gewürdigt worden: „Überspitzt formuliert könnte mit diesen Gesichtspunkten und Kategorien auch der Gebäudebestand der Bundesagentur für Arbeit bewertet werden.“ Die Aufgabe von Gebäuden beschleunige den Niedergang: „Aus unserer Sicht gleicht dies dem Versenken eines Schiffs aus Angst vor dessen Untergang.“

Zudem habe der Kirchenkreis ignoriert, dass Fischbek durch Neubaugebiete stark wachsen werde. „Die Bevölkerungszahl in Fischbek wird sich in den kommenden zehn Jahren von 9000 auf 18.000 verdoppeln. Das sind mehr Menschen, als in einer Kleinstadt wie Bad Segeberg leben. Und die brauchen keine einzige Kirche?“, fragt Janke. Gebäudeplanerin Stolt entgegnet mit Studien des Kirchenkreises: „Leider zeigen unsere Analysen, dass ein Neubaugebiet nur für einen kurzen Zeitraum die Zahl der Gemeindemitglieder stabilisiert.“

Die Geisterkirche

Unter dem Kreuz neben dem schlichten Altar stehen Kaffeemaschinen auf Tischen, auf den Kirchenbänken trocknen Zeltbahnen. In der Dreifaltigkeitskirche an der Neuen Straße ein paar Fußminuten vom Harburger Rathaus entfernt stören die Überbleibsel eines Jugendzeltlagers niemanden. Der letzte reguläre Gottesdienst fand hier 2006 statt, seitdem wird die Kirche, die von außen wie eine Turnhalle wirkt, nur noch bei besonderen Anlässen wie etwa der „Nacht der Kirchen“ genutzt.

Die Dreifaltigkeitskirche, 1966 geweiht als Nachfolgebau für das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Gotteshaus aus dem 17. Jahrhundert, gleicht seit Jahren einer Geisterkirche. Und sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie schwer es ist, eine nicht mehr benötigte Kirche würdevoll anderweitig zu nutzen.

Der Küster muss schon suchen, um in den Schränken noch eine Festschrift der Kirche aus dem Jahr 2002 zu finden. „Man merkt es nicht immer, aber manchmal fällt es einem doch auf: wie schön es ist, in die Dreifaltigkeitskirche zum Gottesdienst zu gehen“, schwärmte die damalige Bischöfin Maria Jepsen in ihrem Grußwort. 19 Seiten weiter würdigt das Denkmalschutzamt das Gebäude als „herausragendes Beispiel für Kirchenarchitektur der Nachkriegsmoderne“. An ihrer Erhaltung bestehe „ein öffentliches Interesse“.

Nur vier Jahre später kam das Aus; 2006 schlossen sich die Gemeinden der Dreifaltigkeitskirche und der benachbarten St.-Johannis-Kirche zur St.-Trinitatis-Gemeinde zusammen. Aus wirtschaftlichen Gründen sei die Fusion notwendig gewesen, sagt die frühere Dreifaltigkeits-Pastorin Sabine Kaiser-Reis. Zwei Kirchen auf so engem Raum in einem sozial schwachen Stadtteil, das hätte einfach nicht länger funktioniert. Ursprünglich sollte die Pastorin ausgerechnet am Totensonntag 2006 den Auszug aus der Dreifaltigkeitskirche feiern. Das konnte Kaiser-Reis noch abwenden: „Den Gedanken fand ich unerträglich. Am Totensonntag sollte der Abschied von Menschen im Vordergrund stehen, nicht der Abschied von Gebäuden.“

Seitdem kämpft Kaiser-Reis mit den Kirchengemeinderäten dafür, ihre Kirche irgendwie zu erhalten. Am ambitioniertesten war das Projekt Klangkirche. Künstler wie Inga Rumpf, Bill Ramsey und Paul Kuhn konzertierten in der Dreifaltigkeitskirche, fasziniert von der extrem trockenen Akustik durch die gelöcherten, hochkant gemauerten Steine. Doch im Schnitt kamen nur 130 Besucher zu den Konzerten, zu wenige für ein wirtschaftliches Überleben. Auch Pläne, ein Café in die Kirche zu bauen, scheiterten am Geld. Wer auch immer den Bau jetzt übernehmen würde, müsste das Energieproblem lösen. Derzeit verschlingt das Heizen im Winter an einem Tag 350 Euro, was auch eine kostendeckende Vermietung an andere Glaubensgemeinschaften unmöglich macht.

So ist Kaiser-Reis heilfroh, dass ihre Gemeinde das Gebäude dem Kirchenkreis übertragen hat: „Wir müssten sonst jedes Jahr eine Investitionskosten-Rücklage von 80.000 Euro in unseren Haushalt einstellen. Für uns völlig undenkbar.“ Und so sehr sie auch an ihrer alten Kirche hängt („Ich mag sie gerade wegen ihrer schlichten Bauweise“), findet sie doch die „C“-Einstufung des Kirchenkreises angemessen. Und am Ende wäre sie auch mit einem Abriss einverstanden: „Es wäre sehr schade, aber wir haben ja schon mehrere alternative Nutzungskonzepte verwerfen müssen.“

Mit dem Abriss würde auch der Musiker der Gemeinde die mit der Kirche verbundene Wohnung einbüßen. Ebenso würde er seinen Übungsplatz an der Orgel verlieren. Andererseits hat man ihm Ostern zum zweiten Mal binnen weniger Tage eine Fensterscheibe eingeworfen. Das Leben in einem dem Tod geweihten Denkmal kann auch anstrengend sein.

David gegen Goliath

Peter Kröger holt eine Mappe mit 17 Klarsichtfolien aus seiner Aktentasche. Der schmale Hefter dokumentiert seinen Einsatz für den Erhalt der Kirchen im Mittleren Alstertal. Mit Beschlussvorlagen, Bauskizzen, Reden, Anträgen. Es ist ein Kampf David gegen Goliath, um in der Sprache der Bibel zu bleiben. Hier Kröger mit weiteren ehrenamtlichen Gemeinderäten, dort der Kirchenkreis Ost mit seinem großen Apparat.

Am Ende fehlten genau zwei Stimmen zu Davids Sieg.

Dabei hätte Peter Kröger gleich zwei gute Gründe gehabt, den Kampf gar nicht erst anzutreten. Der pensionierte Schulleiter gehört als Präsidiumsmitglied der Synode auch der Goliath-Fraktion an, muss also mit dem ständigen Rollenwechsel leben. Vor allem aber ist Kröger privat sehr gefordert. Mit seiner Frau pflegt er die gemeinsame Tochter, zu 100 Prozent schwerbehindert durch die Spätfolgen einer Leukämie.

Aber der Einsatz für die fünf Kirchen der Region ist ihm zu wichtig: „Diese Kirchen sind Denkmäler und historisches Erbe aus der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir brauchen sie für unsere Quartiere.“

Um Krögers Kampf zu verstehen, muss man eine Besonderheit der Kirchenkreis-Planung kennen. Bei zwei Regionen – neben dem Mittleren Alstertal noch der Alsterbund mit jeweils vier Gemeinden – empfahl die Synode, dass man sich untereinander einigen möge. Die Vorgabe war jedoch glasklar: Pro Verbund werden wir nur zwei Standorte fördern. Was man je nach Sichtweise lupenreine Basisdemokratie oder brutales Schwarzer-Peter-Spiel nennen kann.

Wahrscheinlich findet sich im Mittleren Alstertal niemand, der geeigneter für ein solch schwieriges Projekt wäre, als Kröger. Denn der bedächtige Mann mit leiser Stimme taugt weder zum Wutbürger noch zum Rebellen. Er meidet jede „Ihr da oben, wir da unten“-Rhetorik, dafür ist schon sein Respekt vor den Kirchenkreis-Verantwortlichen viel zu groß: „Da sind ja viele Ehrenamtliche dabei, die einen enormen Aufwand betreiben.“ Und in der Sache selbst habe der Kirchenkreis ja auch recht: „Wir müssen sparen, um zukunftsfähig zu bleiben.“ Den Weg indes hält Kröger für falsch: „Statt ganze Standorte zu schließen, wäre es besser, sich jeden Standort anzuschauen, wie man ihn entwickeln kann.“

Genau dies machte Kröger mit den Ratskollegen der Partnergemeinden. ­Akribisch analysierten sie jedes Gebäude – vom Bauzustand über die Rücklagen bis zu der Prognose der Gemeindemitgliederzahl bis ins Jahr 2022. Ihr Vorschlag: Wir erhalten alle Kirchen, suchen aber nach Wegen, dort auch Gemeindearbeit unterzubringen. Im Gegenzug opfern wir unsere Gemeindehäuser.

Als Kröger am 26. April bei einer Synodentagung den 13-seitigen Antrag vorstellt, scheint mehr als ein Achtungserfolg kaum möglich. Denn der Kirchenkreisrat lehnt den Antrag strikt ab. Der „Erhalt aller Predigtstätten“ würde den ganzen Prozess „um einiges teurer für die Solidargemeinschaft machen“. Das Signal an die Delegierten ist deutlich: Wenn ihr jetzt bei Alstertal eine Ausnahme macht, kostet das euer Geld. Von den Auswirkungen eines Präzedenzfalls ganz zu schweigen, schließlich könnten auch andere Gemeinden mit C-Prädikaten auf ähnliche Ideen kommen.

Als die Versammlungsleiterin zur Abstimmung bittet, geht ein Raunen durch den Saal. Die Stimmen beim Antrag der Region Mittleres Alstertal halten sich ungefähr die Waage; ausgezählt werden 32 Ja-, 34 Neinstimmen, 23 Enthaltungen. Kröger hat verloren und doch gewonnen, „dieses Ergebnis ist eine Ohrfeige für den Kirchenkreisrat“, sagt ein Teilnehmer. Der Abend habe gezeigt, wie sehr es an der Basis brodele.

Eine Woche nach der hauchdünnen Niederlage trafen sich die Gemeinderäte. Einhelliger Tenor: Wir machen weiter, dann eben ohne die Bauzuschüsse des Kirchenkreises. Auch Klein Borstel, mit 1627 Mitgliedern die kleinste Gemeinde im Verbund, denkt nicht an Aufgabe. „Hier leben kämpferische Leute“, sagt Pastor Detlef Melsbach. Zudem sind viele Gemeindemitglieder gut situiert, schon jetzt finanziert man den Haushalt zu 62 Prozent aus Spenden, Zins- und Mieteinnahmen. Der Bericht über die Synodenentscheidung im Gemeindebrief hat die Überschrift: „Herr, ich habe lieb die Stätte Deines Hauses.“

Die gespaltene Gemeinde

Wenn Pastor Christoph Borger über das vergangene Jahr redet, macht er keinen Hehl aus seiner damaligen Gemütslage: „Angesichts der Querelen in unserer Gemeinde war es eine Katastrophe.“ Während viele andere Gemeinden der Kampf um den Erhalt der Kirche einte, trieb die Einstufung „nicht förderfähig“ einen Spaltpilz mitten durch seine St.-Petrus-Gemeinde in Heimfeld.

Auf der einen Seite stand der Kirchengemeinderat, der entschied, der Empfehlung des Kirchenkreises, den Standort aufzugeben, zu folgen: „Wenn wir das Problem jetzt nicht angehen, schrumpfen wir uns zu Tode.“ Entlassungen seien unausweichlich. Auf der anderen Seite die neu gegründete „Rettet St. Petrus“-Initiative, angetreten, um die 1978 gebaute achteckige Kirche an der Haakestraße zu bewahren. Mittendrin: Christine Wolter, Leiterin des Kinderchors „Singzwerge“. „Bei einer Standortschließung werden viele Menschen verloren gehen, die in den vergangenen 25, zehn oder fünf Jahren hier Wurzeln geschlagen haben“, warnte sie bei der Gemeindeversammlung im Herbst. Weder Jugend- noch Erwachsenenarbeit seien einfach verpflanzbar.

Der amtierende Rat verwies dagegen auf das Defizit von 26.320 Euro im Haushaltsplan 2017, wie in den Vorjahren nur gedeckt durch einen Griff in die Rücklagen: „Bei fortgeschriebenen Defiziten von 23.000 bis 30.000 Euro sind die Rücklagen zu Ende 2019 weitestgehend aufgebraucht.“ Die Aufgabe des Standorts sei daher auch eine Chance; in der nur 800 Meter entfernten St.-Paulus-Kirche könne nach einem Zusammenschluss ein neues, gemeinsam genutztes Gemeindehaus entstehen.

Nur Vertraute wussten, dass Pastor Borger als Vorsitzender des Gremiums intern gegen die Linie der Räte votierte. „Für mich war das eine ganz schwierige Situation. Nach außen musste ich ja die Linie meiner Kolleginnen und Kollegen vertreten“, sagt Borger.

Der Pastor profitierte schließlich von einem aus seiner Sicht glücklichen Zufall. Denn ausgerechnet in dieser Phase standen nach acht Jahren wieder Wahlen zum Kirchengemeinderat an. Der Aufruf der Petrus-Retter („Wenn Sie einen Kurswechsel möchten, dann gehen Sie zur Wahl“) hatte Erfolg; sie haben mit fünf Stimmen jetzt die Mehrheit im Gemeinderat.

Einer aus der Retterfraktion ist Enno Stöver. Hauptberuflich lehrt er als Professor für Produktionstechnik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften; kein Job für verklärte Nostalgiker, die versuchen, etwas zu retten, was gar nicht mehr zu retten ist. Stöver ist überzeugt, dass die Finanzlücke mit Spenden und kluger Haushaltsführung zu schließen ist: „Wir haben einen Förderverein gegründet, die ersten Anzeichen sind hoffnungsvoll.“ 10.000 Euro hat er bereits gesammelt. Auch die Singzwerge tragen ihr Scherflein bei. Die Eltern zahlen jetzt zehn Euro monatlich.

Die rettende Fusion

Auf dem laminierten Stadtplan in seinem Büro hat Jörn de Jager, Pastor der Gemeinde Eidelstedt, vier Kirchen mit rotem Filzer eingezeichnet. Ganz aktuell sind die markierten Standorte nicht. Seit 2007 werden nur noch in der Christus- und in der Elisabethkirche Gottesdienste gefeiert, die Marienkapelle wich 2013 einem Kindergarten, die Johanneskirche wird im Spätsommer abgerissen. Pastor de Jager hat also im Kirchenkreis West/Südholstein vollendet, was vielen seiner Kollegen wohl bevorsteht: eine Fusion mit dem Bagger. Kann man von Eidelstedt Kirchenfusion lernen?

De Jager schüttelt den Kopf: „So einfach ist das nicht.“ Der Pastor deutet auf den Stadtplan: „Sehen Sie, die neue Gemeinde Eidelstedt entspricht im Wesentlichen dem Stadtteil Eidelstedt, das hat die Fusion deutlich erleichtert.“

Grund Nummer zwei, warum Eidelstedt nur bedingt als Blaupause taugt, ist Jörn de Jager selbst, auch wenn der Theologe dies so nie sagen würde. Er fuhr während des Studiums Taxi, gab Klavierunterricht und spielte Orgel, um über die Runden zu kommen. Zudem arbeitete er in Gemeinden in den USA, die sich aus Spenden finanzieren müssen. Ein Pragmatiker, der weiß, dass man handeln muss, wenn es finanziell klemmt: „Langfristig hätte es für vier Standorte in Eidelstedt wirtschaftlich keine Zukunft gegeben.“

Und doch war der Weg zur Eidelstedter Einheit hart. Besonders für die Gemeinde der 1954 erbauten Marienkapelle; als biblisch-missionarische Gemeinde fürchtete sie um ihre Sonderstellung. Dennoch gab es kaum Kirchenaustritte aus Protest.

Was wohl auch daran liegt, dass Jörn de Jager mit seinen Kollegen sehr behutsam den Zusammenschluss vorantrieb. „Die Orgel der Marienkapelle haben wir zum Beispiel nicht heimlich vertickt, sondern einer Gemeinde in Portugal feierlich übergeben“, sagt er. Am Fusionssonntag verabschiedeten sich die Gläubigen mit Gottesdiensten aus der Marienkapelle und der Johanneskirche, gingen in einem Sternmarsch zur Elisabeth- und Christianskirche – das Signal für den Aufbruch in eine neue, gemeinsame Heimat. Zudem kaufte de Jager einen Kleinbus, um Senioren zu Gottesdiensten und Veranstaltungen chauffieren zu können.

„Kirche muss mit der Zeit gehen“, sagt de Jager. In der 1906 eingeweihten Elisabethkirche zeigt er auf den stilisierten Apfelbaum mit vielen hölzernen Früchten, jede steht für eine Taufe in diesem Jahr. De Jager tauft auch Kinder, deren Eltern konfessionslos sind, die Kirche dürfe ihnen dies nicht verweigern. Dann muss er wieder rüber ins Gemeindehaus; wie jeden Donnerstag verteilt er Lebensmittelgutscheine im Wert von 3,50 Euro an Bedürftige.

Auch zwei Kilometer weiter nördlich warten Hartz-IV-Empfänger geduldig, dass sich die Tür zur Hamburger Tafel öffnet, untergebracht in der ehemaligen Johanneskirche. Sie haben keinen Blick für den heruntergekommenen Flachdachbau am Dallbregen. Auf langen Tischen verpacken ehrenamtliche Tafel-Mitarbeiter Gemüse, Obst, Kaffee und Tee, stets mit einem freundlichen Wort: „Nehmen Sie sich doch bitte noch ein paar Äpfel.“

Ein paar Wochen zuvor, beim Abendblatt-Termin im Kirchenkreis-Büro an der Danziger Straße, hatte Propst Melzer darüber gesprochen, dass die Kirche den Begriff Heimat neu denken müsse. Weg von den Steinen, hin zu den Menschen: „Wir berufen uns schließlich auf die Tradition eines Wanderpredigers.“ Und vielleicht ist Jesus den Menschen im Schatten der Hochhäuser in Eidelstedt in diesem Moment näher als im prachtvollen Michel.