Berlin.

Seit Jahren bewegt sich die Zahl der Organspenden in Deutschland auf einem Tiefstand. Und wieder sind es etwas weniger geworden: 857 Menschen haben sich im vergangenen Jahr nach ihrem Tod insgesamt 2867 Organe entnehmen lassen. Demgegenüber warten hierzulande etwa 10.000 Menschen auf Leber, Herz, Lunge oder Niere. Im EU-Vergleich ist Deutschland Schlusslicht bei der Spendenbereitschaft. Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), spricht zum heutigen Tag der Organspende über die Gründe der Misere. Und er erklärt, was getan werden muss, um die Quote zu erhöhen.

Herr Rahmel, die Zahl der Organspenden ist in Deutschland so niedrig wie nie. Jeden Tag sterben statistisch gesehen drei Menschen, weil sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan erhalten. Wie dramatisch ist die Situation?

Für jeden Einzelnen, der auf ein Organ wartet, ist die Verzweiflung sehr groß. Dabei sind die Zahlen der Warteliste fast schon beschönigend und geben nicht das ganze Dilemma wieder. Es gibt viel mehr Menschen, die durch eine Organspende besser oder länger leben könnten. Nehmen wir das Beispiel Niere: Bundesweit gibt es mehr als 50.000 Dialysepatienten. Aber nicht einmal 8000 sind auf der Warteliste registriert.

Warum so wenige?

Die Patienten müssten im Schnitt sechs bis sieben Jahre auf eine neue Niere warten. Das ist wahnsinnig lang – für manche zu lang. Sie haben sich irgendwann mit ihrer Krankheit arrangiert. Ähnliches gilt für Herzpatienten: Ein großer Teil lebt mit Herzunterstützungssystemen, unter anderem, weil die Chancen auf ein Spenderorgan so schlecht stehen. Tatsächlich gibt es entsprechend auch einen Rückgang von Patienten, die auf die Warteliste aufgenommen werden.

Vor fünf Jahren geriet ein Transplantationsskandal in die Schlagzeilen: Mehrere Kliniken hatten über Jahre bei der Verteilung der Spenderorgane getrickst. Wirken die Manipulationen noch nach?

Dass sie dem Ansehen der Organspende und der Transplantation hierzulande langfristig erheblich geschadet haben, daran gibt es keinen Zweifel. Allerdings gab es schon vorher einen Rückgang von Organspenden. Als die Manipulationen öffentlich wurden, sank die Zahl aber drastisch – und stagniert seitdem auf diesem Niveau.

Dennoch: Nach einer Erhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kann sich der Großteil der Deutschen vorstellen, Organe zu spenden. Doch die wenigsten machen es. Wo liegt das Problem?

In Deutschland gilt die Entscheidungslösung. Das heißt, jeder der nach seinem Tod Organe spenden will, muss diese Entscheidung schriftlich festhalten. Diese Lösung scheint aber an der Passivität der Menschen zu leiden: Sie müssen aktiv werden, um ihren Willen zu dokumentieren – im besten Fall in einem Organspendeausweis oder einer Patientenverfügung. Dafür müssen sie sich intensiv mit diesem, zugegeben, nicht ganz einfachen Thema auseinandersetzen. Wer denkt schon gern über den eigenen Tod nach? Diejenigen, die das tun, tun es, um schwerkranken Patienten zu helfen. Und aus der Überlegung heraus, dass sie selbst im Fall eines Falles dankbar für ein Organ wären.

In Spanien, Österreich oder Frankreich ist man automatisch Organspender, solange man dem nicht widerspricht. Ist das die bessere Lösung?

Entscheidend ist meiner Einschätzung nach eine klare gesetzliche Regelung, nach der Kliniken potenzielle Organspender sofort melden müssen. Bei uns gibt es zu viele Interpretationsspielräume und zu wenig Verbindlichkeit. In Spanien oder auch in den USA gilt die Organspende als absolute Selbstverständlichkeit und ist in den Klinikalltag integriert. Es ist selbstverständlich, dass daran gedacht wird, nachdem für einen Patienten alles medizinisch Mögliche getan worden ist. Es muss endlich auch bei uns ein Ruck durch die Gesellschaft, die Klinikbetriebe und die Politik gehen. Wenn wir lebensrettende Transplantationen wollen, müssen wir auch der Organspende mehr Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen.

Was muss sich noch ändern?

Seit 2012 ist es für Kliniken zwar verpflichtend, Transplantationsbeauftragte zu benennen. Allerdings hat man einigen Medizinern das Amt eher aufgebürdet – als „Job on Top“. Wir brauchen aber engagierte Transplantationsbeauftragte. Sie müssen optimal geschult und für ihre Aufgabe freigestellt werden. Nicht zuletzt decken die Pauschalen der Krankenkassen im Einzelfall die häufig sehr aufwendige Betreuung der Organspender bei Weitem nicht. Das ist der Wertschätzung bei einer Klinikverwaltung nicht gerade zuträglich.

Als Kardiologe haben Sie jahrelang selbst Transplantationspatienten betreut. Macht es Sie wütend, dass so viele Menschen intakte Organe mit in den Tod nehmen?

Ich respektiere jede individuelle Entscheidung – auch wenn die sich gegen eine Organspende richtet. Hauptsache, man trifft eine Entscheidung. Wenn diese nicht zu Lebzeiten getroffen worden ist, werden die Angehörigen gefragt – und das in einer schwierigen Ausnahmesituation der Trauer und des Verlustes. Die Familie ist dann oft überfordert und hat Angst, die falsche Entscheidung zu treffen – häufig entscheiden Angehörige dann im Zweifel gegen die Spende. Da sind sie dann als Arzt, der zum Beispiel um das Leben einer jungen Mutter kämpft, die dringend ein Organ braucht, schlichtweg entmutigt und natürlich auch frustriert.

Es gibt auch Menschen, die haben Angst, als Organspender schlechter versorgt zu werden.

Es ist aber genau umgekehrt: Eine Organspende ist nur möglich, wenn zuvor unter aufwendiger intensivmedizinischer Betreuung alles daran gesetzt wurde, den Patienten zu retten. Nur wenn dies nicht gelingt und dann zwei Ärzte unabhängig voneinander den unumkehrbaren Ausfall aller Hirnfunktionen nachweisen, kommt eine Organspende in Betracht. Der sogenannte Hirntod ist eine der sichersten Diagnosen in der Medizin.

Und wie wollen Sie nun frühzeitig mehr potenzielle Spender gewinnen?

Wir müssen immer wieder klarmachen, welches außerordentliche Geschenk eine Organspende ist. Sehen Sie: Wenn alle Organe eines Spenders transplantiert werden, ermöglichen diese den Organempfängern zusammen im Mittel fast 60 neue Lebensjahre. Etwas Schöneres kann man doch über seinen Tod hinaus nicht leisten.