Berlin.

Mehr als 16 Millionen Deutsche gelten als fettleibig. Viele leiden unter langfristig lebensbedrohlichen Folgeerkrankungen. Studien zeigen, dass eine Magenverkleinerung ab einem bestimmten Gewicht die einzige Möglichkeit ist. Im EU-Ausland ist die Operation gängige Praxis, doch im deutschen Gesundheitssystem ist sie nicht vorgesehen. Betroffene müssen Bewegungs- und Verhaltenstherapien durchlaufen, die vielfach erfolglos bleiben, kritisieren Experten. Eine neue Leitlinie im September soll das ändern.

Ständig verlangt der Körper nach Energie, nach Fett und Zucker. Unter seinem Gewicht schmerzen die Knie und Füße. Bei jedem Gang in die Stadt, bei jeder Busfahrt starren die Umstehenden, oft mit Verachtung oder Spott. So beschreibt Jürgen Ordemann, Leiter des Zentrums für Adipositas und Metabolische Medizin am Helios Klinikum Berlin-Buch den Alltag seiner Patienten. Die Ursachen für Fettleibigkeit (Adipositas) seien vielfältig.

„Ein Überangebot an Kalorien, Bewegungsmangel, aber auch Stoffwechselstörungen und eine genetische Prädisposition“, zählt Ordemann auf. Unabhängig davon würden Fettleibige als faul und undiszipliniert abgestempelt, nicht als Kranke, die kaum noch die Chance bekämen, in ein gesundes Leben zurückzukehren.

Erheblicher Nachholbedarf in Deutschland

Übergewicht beginnt ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 25, als adipös gilt, wer einen BMI von 30 oder mehr hat, so definiert es die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Der BMI ist das Gewicht geteilt durch die Körpergröße zum Quadrat.

Zahlreiche teils lebensbedrohliche Folgeerkrankungen werden direkt mit Adipositas in Verbindung gebracht. Bluthochdruck, Gefäßverkalkung, Typ-2-Diabetes, Depressionen und Tumorerkrankungen sind nur einige davon. „Adipositas ist eine Krankheit und etwas völlig anderes als Übergewicht“, stellt Ordemann klar. Doch das deutsche Gesundheitssystem beurteile das anders. Betroffenen wird die sogenannte multimodale Therapie empfohlen: Bewegungstherapie, Ernährungsberatung, Verhaltenstherapie.

„Ab einem bestimmten Punkt, einem bestimmten Gewicht, sind diese konservativen Therapien jedoch kaum mehr sinnvoll und bringen keinen dauerhaften Erfolg“, sagt Ordemann. Eine Magenoperation dagegen könne Betroffenen bei der Gewichtsreduktion helfen und sogar Folgeerkrankungen wie Diabetes-Typ-2 oder Bluthochdruck deutlich verbessern. Trotzdem werden adipöse Patienten in Deutschland kaum operiert. „Ihnen wird eine wissenschaftlich nachgewiesene Therapie trotz besseren Wissens vorenthalten“, so Ordemann. „Im europäischen Ausland wird deutlich häufiger operiert, die Entwicklung in Deutschland ist sehr verzögert“, sagt auch Florian Seyfried, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Universitätsklinikum Würzburg. Er spricht von erheblichem Nachholbedarf.

In der Regel kämen zwei Eingriffe für adipöse Patienten infrage, so der Experte: der Schlauchmagen oder der Bypass. „Bei der Schlauchmagen-Operation wird aus dem großen Magen ein kleiner Magen hergestellt“, erklärt Ordemann, „größentechnisch wird dabei aus einem Fußball eine Banane.“ So sei der Patient deutlich schneller satt und habe weniger Hunger. „Allerdings müssen Patienten nach einem solchen Eingriff Vitamine wie das Vitamin B12 zu sich nehmen, da dieses nicht mehr ausreichend aufgenommen werden kann“, sagt Ordemann. Alle operierten Patienten bedürften einer lebenslangen Nachbetreuung, auch bei dem anderen häufigen Eingriff, dem Bypass. Dabei wird ebenfalls der Magen verkleinert. „Der sogenannte Magenpouch wird mit einer Dünndarmschlinge vernäht. Somit werden der eigentliche Magen und ein Teil des Dünndarms aus der Nahrungspassage ausgeschlossen“, so Ordemann – mit den gleichen Effekten wie beim Schlauchmagen. Gleichzeitig verbessere sich der Stoffwechsel der Patienten dramatisch.

„Mehrere hochwertige Studien belegen, dass es zu einer deutlichen Gewichtsreduktion kommt und sich Folgeerkrankungen verbessern oder sogar ganz verschwinden“, sagt Seyfried, „90 Prozent der Operierten profitieren deutlich in Bezug auf Diabetes.“ Das sei einer der Hauptgründe, aus denen operative Eingriffe bei Adipositas-Patienten im Ausland teils in der Regelversorgung verankert seien, so etwa in Belgien.

In Deutschland würden „zwischen 1,6 und 2 Millionen Menschen die Voraussetzungen für eine Operation erfüllen“, sagt Seyfried. Tatsächlich behandelt würde nur ein Bruchteil, „2016 waren es etwa 10.000“, so Seyfried. Damit die Krankenkasse die rund 8000 Euro für den Eingriff übernimmt, müssen Patienten laut Leitlinie einen BMI von 40 haben, die sogenannte morbide Adipositas, oder einen BMI von 35 und eine schwere Folgeerkrankung. Zusätzlich müssen sie die multimodale Therapie für mindestens ein halbes Jahr ohne ausreichenden Erfolg durchlaufen haben. Eine Behandlung, die ebenfalls nicht von der Krankenkasse bezahlt werde, so die Experten.

„Erst dann darf eine OP beantragt werden“, sagt Ordemann. Bewilligt werde sie deshalb noch längst nicht. „Statistiken zeigen, dass es in Deutschland vom Bundesland abhängt, ob so ein Antrag bewilligt wird“, sagt Seyfried. In Bayern sei die Ablehnungsrate unverhältnismäßig hoch, in den großen Städten Berlin und Hamburg tendenziell geringer – ohne ersichtliche Gründe. Dabei sei im Gegensatz zur operativen Methode gar nicht erwiesen, dass schwer adipöse Patienten von Sport und Ernährungsberatung langfristig überhaupt profitieren.

„Bekommt der Körper durch Nahrung weniger Energie, als er braucht, hat er beeindruckende Verteidigungsstrategien zum Schutz seiner Energiereserven. Er senkt etwa den Energieumsatz und erhöht gleichzeitig das Hungergefühl“, sagt Seyfried. Bei der Entwicklung des Menschen sei das eine wertvolle Eigenschaft gewesen, heute mache es vielen das Abnehmen schwer. Für eine langfristige Verbesserung sei ein operativer Eingriff bei Patienten mit morbider Adipositas derzeit alternativlos.

Größentechnisch wird aus einem Fußball eine Banane

Warum Deutschland so hinterherhinkt, können sich die Mediziner nicht erklären. Die Operation sei keineswegs nur eine „einfache Lösung“ für Patienten, die es nicht aus eigenem Antrieb schaffen, sondern für manchen Patienten lebensrettend. „Natürlich muss auch bei der Prävention noch viel getan werden“, sagt Seyfried.

„Adipositas ist heute das größte Gesundheitsproblem, mit dem Deutschland zu kämpfen hat, das wird völlig unterschätzt“, stimmt Ordemann zu. Hoffnung mache eine Aktualisierung der deutschen Leitlinie, die im September veröffentlicht werden soll. „Sie orientiert sich deutlich mehr an den internationalen Standards“, sagt Sey­fried.