Um eine Kritik wie diese hier schreiben zu können, wird ein Film in der Regel einige Wochen vor Kinostart der Presse präsentiert. Da sitzen dann 20 bis 200 Menschen in einem Saal, und einem ungeschriebenen Gesetz zufolge werden emotionale Reaktionen – im Gegensatz zu einer normalen Kinovorstellung – eher unterdrückt. Man ist schließlich Profi. Dass aber auch Profis nur Menschen sind, hat in den 25 Jahren meines Berufslebens noch kein Film so eindrucksvoll unter Beweis gestellt wie „Sieben Minuten nach Mitternacht“.

Bei der Vorführung wurde kollektiv – sagen wir mal – schwer geatmet, manchmal geschluchzt. Circa alle 20 Minuten ebbte diese Stimmung etwas ab, hier und da lachte jemand erleichtert, bis wieder unweigerlich Taschentücher gezückt werden mussten. Zugegeben, das klingt rührselig, zeugt aber von nichts anderem als der erzählerischen Kraft dieses in England gedrehten Films, der in Spanien, der Heimat des Regisseurs, einer der erfolgreichsten Filme des vergangenen Jahres war. Man spürt hier in jeder Minute, wie viel Ernst, Sorgfalt und Liebe in einem Film stecken kann – und dass seine Macher genau wussten, wovon sie erzählen.

„Sieben Minuten nach Mitternacht“ basiert auf einer Idee der 2007 an Krebs gestorbenen irischbritischen Schriftstellerin Siobhan Dowd, die ihr britischamerikanischer Kollege Patrick Ness zunächst als Jugendroman, dann auch als Drehbuch realisiert hat. Es geht um den 13-jährigen Connor O’Malley (Lewis MacDougall, bekannt aus „Pan“) der mit dem Alltag eines eher verschlossenen Kindes eigentlich genug zu kämpfen hätte.

Richtig wütend macht ihn allerdings, dass seine Großmutter (Sigourney Weaver) neuerdings ständig aufkreuzt. Er kann die herrische Dame nicht ausstehen, die auch offen zugibt, dass die Ablehnung auf Gegenseitigkeit beruht. Aber weil Connors Mutter (Felicity Jones, aus „Rogue One“) schwer an Krebs erkrankt ist, rückt die kleine Familie zusammen, aus Pflichtgefühl und Mangel an Alternativen. Connors Vater hat in den fernen USA eine neue Familie gegründet.

Es herrscht ein Klima des langsamen Abschieds im Haus der O’Malleys. Selten werden Großmutter, Mutter und Sohn laut, als könnte das Unterdrücken von Gefühlen auch den Tod ein wenig länger auf Distanz halten. Nur wenn Connor schläft, bricht die Hölle los. Und mit den Realitätsebenen wechselt der Film auch sein Genre. Der auf originelle Horror­filme spezialisierte Juan Antonio Bayona inszenierte die Albträume des Teenagers als Fantasy-Märchen. In sein Schlafzimmer dringen Wurzeln und Äste einer alten Eibe ein, die (im Original gesprochen von Liam Neeson) auf diese urwüchsige Art nichts weniger als eine Therapie einfordert. Um den Jungen nach und nach mit seinen Ängsten zu konfrontieren, erzählt der Baum jede Nacht eine Geschichte.

Für den Zuschauer werden sie als Animationsfilme sichtbar, deren fast roh erscheinender Skizzencharakter im Ge-gensatz zu den eher in weiches, tröstliches Licht getauchten realen Filmteilen steht. Es sind eben keine einlullenden Gutenachtgeschichten. Vielmehr verweisen sie auf die Autorität einst mündlich überlieferter Sagen und Märchen; ihre tiefenpsychologische Potenz machen „Sieben Minuten nach Mitternacht“ schon rein ästhetisch zu einem außergewöhnlich abwechslungsreichen Erlebnis.

Dabei geht es hier nicht darum, einer schon Tausende Male erzählten Geschichte neue Erkenntnisse oder überraschende Wendungen abzutrotzen. Letztlich entwickelt der Film seinen unheimlichen Sog vor allem aus der entschiedenen Anteilnahme am Schicksal des jugendlichen Helden. Konsequent aus Connors Perspektive erleben wir nichts weniger als das Drama unserer eigenen, der menschlichen Existenz – und ein filmisches Meisterwerk.

„Sieben Minuten nach Mitternacht“ USA/ Spanien 2016, 108 Minuten, ab 12 Jahren, Regie: Juan Antonio Bayona, Darsteller: Lewis MacDougall, Felicity Jones, Sigourney Weaver, täglich im Passage, Studio (OmU) und UCI Mundsburg;