Ich muss gar nichts! Auf der Postkarte thront ein Vogel mit Krone, schlägt die Augen nieder, verschränkt die Flügel vor der Brust und pfeift gewissermaßen auf alle vermeintlichen Zwänge um sich herum: Ich muss gar nichts!

Ich hingegen muss lächeln, als ich die Karte aus dem Briefkasten ziehe. Die kühne Unabhängigkeit dieses etwas schrägen Vogels imponiert mir – das wäre doch mal was: ein Befreiungsschlag von all dem, was wir in unserem Leben zu müssen meinen: Ich muss los. Ich muss noch aufräumen. Ich muss mehr Sport machen. Ich muss die Zeit gut nutzen – sogar in den Ferien! Auch das in aller Freiheit Geplante fällt inzwischen unter die Muss-Sprachregelung: Ich muss früh ins Bett. Ich muss heute Abend ins Konzert. Ich muss noch ein Geschenk besorgen. Fast kommt es mir so vor, als sei das maßlose Müssen, dessen geschäftiges Opfer wir zu sein scheinen, ein auch hausgemachtes Problem. Denn vermutlich gab es selten eine Zeit mit so freien Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten wie unsere heute: freie Wahl von Schule, Beruf, Religion, Lebensform, Hobby und Meinung in persönlichen Belangen und demokratische und partizipatorische Rechte in politischen und gesellschaftlichen Prozessen.

Diese uns völlig selbstverständlich erscheinenden Freiheiten sind hart und lange erkämpft. Einer ihrer Wegbereiter ist der Reformator Martin Luther, der sich vor 500 Jahren dem Machtkalkül und Autoritätszwang von Kirche, Staat und Gesellschaftsordnung widersetzte. Ich muss nicht beten oder beichten oder fasten oder Geld bezahlen, um erlöst zu werden, sondern ich muss gar nichts. Weil Gott mir unbedingt, also ohne Bedingungen, Gnade gewährt, bin ich frei von allen Zwängen, die andere Menschen oder ich selbst mir auferlege. Denn „wo Gottes Geist ist, da ist Freiheit“, so steht es in der Bibel.

So frei sind wir also. Deshalb können wir unterscheiden zwischen dem, was wir sollen und was wir dürfen – wir müssen gar nichts! Wenn wir uns ab und zu an diese geschenkte Freiheit erinnern und dafür danken, dann müssen wir vielleicht lächeln – und das Muss darf sein.

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