Vor einem halben Jahr verlor Jasmin F. ihren vierjährigen Sohn Liam bei einem Badeunfall. Bei ihrer Trauerbewältigung hilft ihr der „Verein für verwaiste Eltern und Geschwister“. Von Peter Wenig

Die Gummispinne auf der Fensterbank lauert auf Beute, auf dem Schrank verteidigen vier Ritter ihre Burg, beäugt von zwei Dinosauriern. Im Bettchen kuscheln Plüschtiere, auf dem himmelblauen Teppich glotzt ein freundlicher Marsmensch. „Den hat Liam so geliebt, dass er sogar auf ihm geschlafen hat“, sagt Jasmin F.

Nichts hat sie in dem Kinderzimmer in dem kleinen Haus in Eißendorf verändert seit jenem 2. Juli 2016. Nur eine Kerze brennt jetzt neben dem Foto von Liam auf der Fensterbank, direkt neben der Spinne. Jasmin F. hat lange überlegt, ob sie mit dem Abendblatt über Liam reden soll. Entscheidend war für sie am Ende, noch einmal sagen zu können, was für ein lieber Junge ihr Liam war. Und wie eine Minute das Leben für immer in ein Vorher und Nachher teilen kann.

Der Tag der Tragödie beginnt mit einem Wunsch. „Mama, lass uns schwimmen gehen. Und vorher noch einen Apfelkuchen backen“, sagt der Vierjährige. Jasmin F. zögert, eigentlich ist es ihr zu riskant, auf Liam und seine drei Jahre ältere Schwester Alina im Schwimmbad aufzupassen. Seit ihre Ehe 2015 zerbrach, kümmert sie sich allein um sie. Doch dann willigt sie ein, sie will den Kindern auch mal etwas gönnen. Nur für den Apfelkuchen bleibt keine Zeit mehr, stattdessen backt sie einen Apfel-Möhrenkuchen nach Olgas Rezept, Liams geliebter Erzieherin. Den Apfelkuchen soll es dann am Sonntag geben.

Im Midsommerlandbad tobt Jasmin F. mit ihren Kindern im Wasser. Wieder und wieder springt Liam in ihre Arme. Dann planschen sie noch im Babybecken, Alina und Liam dürfen ihre Schwimmflügel abstreifen. Ihr Blick geht zur Uhr, das Drei-Stunden-Ticket läuft ab, die Arzthelferin muss aufs Geld achten. Doch die Kinder betteln: „Bitte lass uns noch bleiben.“ Jasmin F. gibt nach, muss aber aufs WC, schärft den Kindern ein, ja an der Toilettentür auf sie zu warten. Als Alina durch die Tür ruft „Liam ist vorgerannt“, macht sie sich noch keine Sorgen, im Planschbecken kann schließlich nichts passieren. Doch dort ist ihr Sohn nicht – und als die beiden zum großen Becken eilen, sehen sie eine Menschentraube um einen kleinen Jungen. „Ich habe ihn an der Badehose erkannt“, sagt Jasmin F. Was genau in der Minute zuvor passiert ist, wird wohl ungewiss bleiben.

Die Stunden danach verschwimmen in ihrer Erinnerung. Die Wiederbelebungsversuche der Bademeister, das Eintreffen der Notärzte („Ich habe nur gedacht, warum dauert das so lange?“), der Transport in die Helios Mariahilf-Klinik, die Hoffnung, als das Herz wieder schlägt, die Verlegung am Abend ins UKE, das Entsetzen, als die Ärzte gegen Mitternacht sagen, dass nur ein Wunder Liam retten kann. Die Nacht über wacht sie am Bett ihres Sohnes, kuschelt sich am frühen Morgen an ihr sterbendes Kind. Für ein paar Minuten nickt sie ein, als sie aufwacht, das Drama begreift, denkt sie: „Ich möchte mit meinem Kleinen sterben.“ Alina legt ihrem Bruder noch seine Mickymaus in die Arme. Um 13.39 Uhr stirbt Liam. Die Mutter wäscht ihn, cremt ihn ein, schneidet ihm die Nägel und kämmt ihm ein letztes Mal das Haar.

Die Tage danach erlebt Jasmin F. wie betäubt. „Kind ertrinkt, weil Mutter nicht aufpasst“, titelt eine Boulevardzeitung drei Tage nach dem Unfall – auch Schlagzeilen können Schläge sein. Der Großvater postet auf Facebook einen wütenden offenen Brief, klagt einen „Rufmord“ an seine Tochter an. Jasmin F. nimmt dies in ihrer Trauer gar nicht richtig wahr, die Beerdigung fordert ihre letzten Kräfte.

Luftballons steigen am 12. Juli auf dem Neuen Friedhof in Harburg hoch, Jasmin F. hat Pappherzen gebastelt, auf die jeder Trauergast seinen Wunsch für den kleinen Liam notieren kann. Die von ihr geschriebene Trauerrede endet mit dem Satz: „Das Leben ohne meinen kleinen Engel ist für mich nicht vorstellbar.“

Sechs Monate später sitzt Jasmin F. am Wohnzimmertisch in Eißendorf, ihr alter Kater schmiegt sich an sie. Sie blättert in dem Buch, das ihr das Erzieherteam, die Eltern und Kinder aus Liams Eichhörnchen-Gruppe geschenkt haben, jede Seite eine Liebeserklärung. Mit der Kindergartengruppe hat sie noch immer viel Kontakt, eine ihrer Inseln im Meer der Tränen. Die Eltern sammelten auch, damit ein Engel als Grabstein über Liam wachen kann. „Allein hätte ich mir das nicht leisten können“, sagt Jasmin F. Denn ihre Arbeit hatte sie schon vor dem Unfall verloren. Sie wollte nur noch vormittags arbeiten, um nachmittags für ihre Kinder da zu sein. Doch darauf wollte sich die Praxis nicht einlassen.

Ein Haus im Herzen von Eimsbüttel an der Bogenstraße wird ihre Zuflucht. Die zweite Etage ist die Heimat vom „Verein für verwaiste Eltern und Geschwister Hamburg“. An den Wänden hängen Stoffbahnen mit Kinderfotos. Wer die Teppiche sieht, begreift, dass Liams Tragödie kein Einzelschicksal ist. Bundesweit sterben Jahr für Jahr 20.000 Kinder und junge Erwachsene. Krankheiten, Unfälle, Suizide, Gewaltverbrechen zerreißen Familien.

Jeden zweiten Mittwoch im Monat trifft sich Jasmin F. an der Bogenstraße mit anderen betroffenen Eltern. Oft kreisen die Gespräche um das Thema Schuld: Wie hätte ich den Tod meines Kindes verhindern können? Ein Patentrezept gibt es nicht, sagt Petra Junge, Trauerbegleiterin des Vereins. Die Gespräche mit Betroffenen helfen. „Doch verzeihen kann sich am Ende nur jeder selbst“, sagt Petra Junge, deren Tochter in der Türkei ermordet wurde.

Jasmin F. hat auf diesem langen Weg erst wenige Meter zurückgelegt. Wenn sie abends die Kerzen auf der Vitrine im Wohnzimmer entzündet, wo sie all die Dinge gesammelt hat, die sie an Liam erinnern – Fotos, seinen letzten Händeabdruck, das selbst gebastelte Hexenhäuschen –, zermartert sie ständig die Frage: Warum habe ich den Kindern die Schwimmflügel ausgezogen? Dabei weiß sie im Innersten, dass die Selbstvorwürfe ungerecht sind, sie war nur kurz auf der Toilette, Liam eigentlich viel zu schüchtern, um auf eigene Faust loszuziehen. Und die große Schwester war ja auch noch dabei.

Alina ist jetzt ihr größtes Glück. Nach außen wirkt das Mädchen gefasst, aber die Mutter weiß, wie sehr sie ihren Bruder vermisst: „Die beiden waren unzertrennlich.“ Bei der Beerdigung fragte Alina: „Mama, ist Liam jetzt da unten eingesperrt?“ Seitdem will sie, dass die Türen immer offen sind. Wie ihre Mutter ist sie in psychologischer Behandlung und besucht die Trauergruppe für verwaiste Geschwister.

Schon für Alina muss Jasmin F. irgendwie funktionieren. Freunde hatten den beiden im Oktober ein paar Tage in Spanien geschenkt, in der Nacht vor dem Abflug träumte sie, dass sie zu dritt aufbrechen werden. Das Aufwachen, sagt sie, war schrecklich. Auch Weihnachten ging es ihr nicht gut. Mit Alina hat sie Matchbox-Autos verpackt, auf Liams Grab gelegt. Wie allen verwaisten Eltern hilft es ihr, wenn sie mit Vertrauten über ihr Kind reden kann. Wie Liam sich auch über ganz kleine Dinge freuen konnte, wie gern er Stöcke und Steine sammelte, dass er Eis am liebsten schon vor dem Frühstück naschen wollte. Und wie er abends sein Gesicht an ihres schmiegte und flüsterte: „Mama, das ist Schmusen.“

Diese Erinnerungen geben ihr Kraft. So viel, dass sie auf längere Sicht wieder arbeiten möchte. Vielleicht, sagt sie, gibt es ja eine Arztpraxis, die sie an Vormittagen beschäftigen kann.

Am 17. Februar wird sie mit Alina und Verwandten wieder zu Liams Grab gehen, er wäre an diesem Freitag fünf Jahre alt geworden. Sie hofft, dass viele Freunde zum Friedhof kommen werden: „Ich will mit ihnen über die schönen Zeiten mit Liam reden. Ich möchte, dass die wunderbaren Erinnerungen an ihn wach bleiben.“ Sie wird Apfelkuchen backen. Für Liam. Ihren kleinen Engel.

Für den Verein „Verwaiste Eltern und Geschwister“ liest der Schauspieler Peter Lohmeyer am Sonntag, 19. Februar, 11 Uhr, in den Kammerspielen (Hartungstraße 9–11) aus dem Buch „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ von Friedrich Christian Delius. Die Karten kosten 21 Euro. Vorverkauf über www.hamburger-kammerspiele.de