Von einem Zeugnistag mit einem geschenkten Hubschrauber und väterlichen Erinnerungen an heldenhafte Zeiten.

Wir sind eine ehrliche Familie. Offen äußern wir unsere Wünsche, jeder steht zu seinen Schwächen, wir üben uns im Verzeihen, vor allem, wenn Zeugnisse anstehen. „Es ist zu viel Druck in der Welt“, hatte ausgerechnet die Chefin neulich festgestellt und angeordnet, der globalen Kälte mit Herzenswärme zu begegnen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob wir mit Räucherstäbchen und einfühlsamen Gesprächen gegen Putin, Trump und die anderen Stahlschädel bestehen würden. „Wir müssen ein Zeichen der Liebe setzen“, entgegnete die Chefin, „deswegen wirst du dir deine Meckereien diesmal sparen.“ Ist es ein Anschlag auf die zarte Seele eines Sechstklässlers, wenn ich freundschaftlich anmerke, dass in Mathe und Latein noch ein wenig Luft nach oben sei? Andererseits: Als Hans neulich um Beistand bei den Hausaufgaben bat, hatte ich wohl eine Spur zu hilflos auf die Dezimalbrüche gestarrt.

„Hol doch mal deine alten Zeugnisse aus dem Keller“, regte die Chefin an. Schöne Idee, zumal ich ein großer Aufbewahrer bin. In Dutzenden Umzugskartons habe ich die Geschichte meines Lebens gehortet, falls die Kinder später mal wissen wollen, wie früher die Krankenkassenmitteilungen ausgesehen haben. Nur die Zeugnisse fehlen leider. Politiker würden von Blackout reden, Psychologen von selektiver Erinnerung und die Chefin von systematischem Verdrängen. Unsinn. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich durchweg Bestnoten, jedenfalls in der Töpfer-AG.

Die Chefin behauptet, dass Männer im Pro­blemalter, also alle, dazu neigen, ihre Jugend mit jedem Lebensjahr fantastischer werden zu lassen. Tatsächlich berichten viele Altersgenossen nach dem dritten Bier, dass sie in der B-Jugend fast zum Probetraining bei Schalke 04 eingeladen worden wären, wenn nicht diese eklige Knieverletzung dazwischengekommen wäre. Alternative Fakten sind halt im Trend. Ich habe immerhin mal an einem Vorlesewettbewerb teilgenommen und ein Sparschwein gewonnen, was ehrlicherweise nicht der Hauptpreis war.

Um nicht weiter mit meiner Vergangenheit behelligt zu werden, hatte ich auf Mildemodus geschaltet, als Hans mit dem Zeugnis nach Hause kam. Das Kind schien recht zufrieden und zählte ungefragt ein halbes Dutzend Mitschüler auf, die auch nicht besser abgeschnitten hatten. „Toll“, sagte ich aufmunternd und verkniff mir die Lektüre der verdächtig ausführlichen Beurteilung. Die Chefin hatte entschieden, das Kind mit einem Wunschtag zu belohnen: Hans sollte sich was Schönes aussuchen, was die ganze Familie gemeinsam unternehmen könnte: ein interessantes Museum vielleicht, danach eine Riesenportion Tiramisu oder einen tollen Tagesausflug ins Naherholungsgebiet. Das Kind war mäßig begeistert.

„Barron Trump bekommt bestimmt einen Hubschrauber“, maulte unser Sohn. Ich war geschockt. Justin Bieber als Vorbild ließ sich wirklich noch unterbieten. War das das Resultat meiner jahrelangen sozialliberalen Erziehung? Wären wir früher auf die Idee gekommen, der Sohn von Richard Nixon sein zu wollen? Oh nein, wir hatten noch richtige Idole: Alice Cooper, Samantha Fox, Thomas Häßler. „Barron hat eine ganze Etage im Trump-Tower“, wusste Hans zu berichten. Na toll, da kann er dann mit seinem Hubschrauber rumfliegen, nachdem Melania erst Dezimalbrüche mit ihm geübt und dann die Lateinvokabeln abgefragt hat. „Warum bist du eigentlich nicht Präsident geworden?“, fragte mein tückischer Sohn.

Berechtigte Frage? Von den Noten her hätte es sicher gereicht. „Donald Trump hat seinem Sohn nie vorgelesen und ihn auch nicht gewickelt“, konterte ich mit angelesenem Wissen. Hans schwieg, aber sein Blick sagte: Für einen Hubschrauber hätte ich mir das Vorgelese gern schenken können. Oder für ein Smartphone.

Wir sind dann gemeinsam ins Kino gegangen, in einen amerikanischen Actionfilm, haben dazu eine US-Limonade getrunken und anschließend einen Hamburger gegessen. Zu Hause habe ich dann doch noch ein Präsent hervorgezogen, einen ferngesteuerten Mini-Hubschrauber, der allerdings sehr bald am Bücherregal zerschellte, auf Höhe der Tocqueville-Gesamtausgabe. Bei Ebay werde ich alsbald nach historischen Blanko-Zeugnissen fahnden, die ich mit meinen erinnerten Noten selbst ausfüllen werde. Im kommenden Halbjahr wird der Leistungsdruck erhöht werden.