Boris Nikitin verhandelt in „Martin Luther Propagandastück“ Fragen der Religion mithilfe von Heiner Müller

Der Schweizer Theatermacher Boris Nikitin ist ein seltener Gast in Hamburg. Seine aktuelle Produktion „Martin Luther Propagandastück“, die am 29. und 30. Januar im Thalia in der Gaußstraße gastiert, hat mit dem Reformator nur sehr am Rande zu tun. Er liefert nur den Anlass, sich mit Vorgängen eines radikal neuen Denkens zu befassen.

Der Performer Malte Scholz schält sich aus einem schunkelnden Gospelchor heraus – wer das einmal live erlebt hat, weiß, wie mitreißend und erhebend diese Chöre sein können – und beginnt über das Prinzip des Glaubens im Gegensatz zur Wissenschaft zu fabulieren. Der Gestus des Performers erinnert dabei an den eines Conférenciers, möglicherweise aber auch an den eines Fernsehpredigers oder modernen Motivationstrainers, wie sie in größeren Unternehmen häufig zum Einsatz kommen, wenn es gilt, die Mitarbeiter einzuschwören.

Und weil das Ganze anlässlich eines Heiner-Müller-Schwerpunkts am Hebbel am Ufer Berlin herauskam, tauchen auch Zitate auf, die dem 1995 gestorbenen Dramatiker, der zu den wichtigsten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt, in den Mund gelegt werden. Nikitin geht es dabei ums Prinzip. Wenn etwa der Satz „Ihr habt das Sterben verlernt“ aus Heiner Müllers Stück „Der Auftrag“ fällt, so geht es anlässlich der Legende vom ungläubigen Thomas um Glauben heute und ganz konkret um die Kunst zu leben.

Denn, so der theologische Diskurs, ohne sterben zu können ist ein befreites Leben kaum möglich. Bei Heiner Müller hat das noch mit einem von Europäern gelenkten Aufstand schwarzer Sklaven auf Jamaika zu tun, der nie stattfindet, weil die Botschaft der Französischen Revolution in der Heimat längst mundtot ist. Es geht dabei im weiteren Verlauf auch um die brennend aktuellen Fragen von Radikalisierung und Ideologisierung, von Fundamentalismus und Terror.

Boris Nikitin ist ein Theatermann, dessen Sozialisierung entscheidende Impulse durch Hospitationen bei Volksbühnenchef Frank Castorf und Regisseur René Pollesch erhielt. Wie Pollesch ist er Absolvent des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Nikitin hat sich mit neuen Formen jenseits eines starren Sprechtheaterkorsetts vollgesogen und diese fortan zur Richtschnur seiner Arbeit erhoben, mit der er um die Welt tourt. Mit dem Performer Malte Scholz hat Boris Nikitin bereits „F wie Fälschung“ und „Woyzeck“ erarbeitet, beide, wie übrigens auch „Martin Luther Propagandastück“, eingeladen zur Bestenschau der deutschsprachigen Freien Szene, dem „Impulse“-Festival in Nordrhein-Westfalen.

Boris Nikitin interessiert sich für die Schnittstelle von Theater und Dokumentation, wobei bei ihm nicht wie vielerorts Laien, sondern immer Theaterexperten die Bühne bevölkern. Mal als sie selbst, mal als jemand anderer. Anhand ihrer Kunst verhandelt Nikitin die Grenze zwischen Realität und Fiktion. Und um die Freiheit, selbst zu entscheiden, woran man eigentlich glauben will.

„Martin Luther Propagandastück“ verspricht eine Theatermesse, die in jedem Fall Denkanstöße garantiert.

Boris Nikitin: „Martin Luther Propagandastück“ 29.1., 20.00, 30.1., 19.30, Thalia Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de