Xavier Dolan seziert im Drama „Einfach das Ende der Welt“ zu laut private Mechanismen

Die weihnachtlichen Fahrten in die heimische Provinz der Kindheit können eine Geduldsprobe werden. Zunächst überwiegt die Freude auf das Wiedersehen, für ein paar Tage soll alles möglichst perfekt sein. Doch oft treffen dann unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander, plötzlich liegen sich erwachsene Geschwister und die leicht sonderbar gewordenen Eltern über dem gemeinsamen Essen in den Haaren. Pünktlich zur Rückkehr der Landflüchtigen aus den Feiertagen startet ein kanadisches Kinodrama über eine Familienzusammenkunft, in dem alles noch viel, viel schlimmer ist.

Louis-Jean (Gaspar Ulliel), erfolgreicher Schriftsteller, fliegt nach zwölf Jahren Abwesenheit zu seiner Familie, um sich zu verabschieden, weil er unheilbar erkrankt ist. Wie eine tickende Zeitbombe zieht sich dieses unausgesprochene Bekenntnis durch den Film, macht den Zuschauer zum Komplizen des Protagonisten, der immer wieder versucht, ein Gespräch zu beginnen. Denn seine Familie entpuppt sich als Albtraum, ein Haufen neurotischer Sonderlinge voll aufgestauter Gefühle und Vorurteile.

Die Mutter (Nathalie Baye) ist eine aufgetakelte Drama-Queen. Die kleine Schwester Suzanne (Léa Seydoux) schiebt ihre ganze verkiffte Lethargie auf das Fehlen des großen Bruders, den sie kaum kennt. Die tiefsten Gräben bestehen zu seinem Bruder Antoine (Vincent Cassel), der sich von jedem Satz Louis’ angegriffen fühlt. So kommt nie eine Aussprache zustande. Ein Entkommen aus dieser Hölle ist nicht möglich.

Der Kanadier Xavier Dolan (27), international als Wunderkind gefeiert, seziert in seiner fünften Regiearbeit gnadenlos innerfamiliäre Mechanismen in Großaufnahmen. Das ist anstrengend, auch in seinem Pathos und seiner Thea­tralität. Je lauter es wird, desto kälter lässt es einen. Mag sein, dass jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist, wie Leo Tolstoi behauptete.

Dabei erinnert die Grundsituation in Dolans Melodram an eine der wichtigsten Bucherscheinungen dieses Jahres, Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“. Der Soziologe beschreibt darin die Konfrontation mit seiner Familie aus dem Arbeitermilieu, nachdem er in Paris akademische Karriere gemacht hat. Doch wo Eribon eine kluge wie bewegende Studie über Ressentiments und soziale Gräben liefert, ist bei Dolan nur hohles Geschrei.

„Einfach das Ende der Welt“ CDN/F 2016,
95 Min., ab 12 J., R: Xavier Dolan, D: Nathalie Baye, Vincent Cassel, Marion Cotillard, täglich im Zeise (OmU); www.weltkino.de/film/kino/einfach_das_
ende_der_welt