Wir sind eine vernünftige Familie. Wir wägen Fakten ab, kontrollieren unsere Emotionen und finden eine gemeinsame Lösung. Nur Weihnachten nicht. Da gewinnt das Gefühlige. Meinetwegen könnten wir das Fest der Liebe in einer straffen 90-Minuten-Choreografie abfeiern, ganz ohne Baum. Aber nicht mit der Chefin. „Der Heilige Abend ist besonders“, sagt sie. Übersetzung: Ein weiterer Akt im alljährlichen Tannenbaumdrama.

Seit Jahren versuche ich die Familie davon zu überzeugen, dass ein Nadelbaum ökologischer Unsinn ist, zumal sich Nadeln und Baum ja bis zum 24. längst voneinander getrennt haben. Bäume gehören in den Wald. Wenn ein Hektar Wald im Jahr zehn Tonnen Kohlendioxid aus der Luft filtert und die Deutschen jedes Jahr 25 Millionen Tannenbäume in ihren überheizten Wohnzimmern abnadeln lassen, dann wundert einen der Klimawandel gar nicht.

Weil die Chefin die Tanne ohnehin bis zur Unkenntlichkeit verschmückt, würde ein Kleiderständer genügen oder das schmucke Kunststoffmodell aus dem Internet mit Regenschirmtechnologie. „Wären Tannenbäume Delfine, dann ...“ Die Chefin unterbrach meine hofreiterhaften Ausführungen und befahl: „Besorg diesmal bitte einen anständigen Baum. Nicht wieder so ein mickriges Teil. Und bitte keine Verletzungen.“ Vor zwei Jahren wollten wir selbst einen Baum schlagen. „Fällen ist Männersache“, hatte ich verkündet. DMAX-Gucker kennen sich aus. Die Chefin hatte den Verbandskasten aus dem Auto mitgenommen. Bis Ostern waren meine Fällwunden abgeheilt.

„Los, Papa, wir gehen zum Holländer“, krähte Hans. Der Holländer ist berüchtigt im Viertel. Kurz nach den Herbstferien zäunt er eine Freifläche ein, die sommers als Freiluft-Café dient, und stapelt dort Tannenbäume. Er fahre mit einem Laster in die Ukraine, kaufe unzählige Bäume für ein paar Glasperlen, verscheure die Nadelhölzer zu Mondpreisen an dusselige Städter und verbringe den Rest des Jahres an einem Strand im Süden, heißt es. Augen auf bei der Berufswahl.

Im letzten Jahr waren wir erst Heiligabend zum Holländer gegangen. Was sollte der Holländer mit Fichten im Januar? Null Nachfrage gleich Schnäppchenpreis – so läuft Kapitalismus, hatte ich Hans erklärt. Auf keinen Fall Kaufinteresse zeigen, nicht mal bei diesem Prachtexemplar, das da recht frisch und hochgewachsen lehnte. Der Nachteil an Altbauwohnungen: Bäume unter zwei Metern sehen so verloren aus wie ein Liberaler an einem Montagabend in Dresden. Nachteil an Bäumen über zwei Meter: sauteuer. „80“, stand auf ein Schild gekrakelt. Ein Scherz. Ich nahm Hans an die Hand, um meinen ökonomischen Dauernotstand zu belegen, und sagte: „30“.

Der Holländer kommt mit einer Bonsaitanne zurück. „Die kostet 30“, sagt er. Hm. Ich könnte den Tannenzwerg mit ein paar Kabelbindern in weihnachtlichem Grün auf einen Kleiderständer montieren. „50“, sage ich mit fester Stimme. Hans schweigt. In solchen Momenten kann ein Vater seine über Jahre sorgsam aufgebaute Autorität verlieren. Ein Alt-Hipster mit Gauland-Tweet und fantafarbenen Haaren hatte sich angeschlichen, schnappte nach dem Baum und hielt dem Holländer 80 Euro hin. Hans bebt. Der Holländer grinst. Der Hipster auch. Mir egal. Dann eben eine Fichte, etwas licht untenrum, dafür preiswert. Leider waren nicht mehr viele Nadeln dran, als wir zu Hause ankamen.

Heute kaufe ich den Baum deutlich vor dem Fest. Diese Saison seien Öko-Bäume angesagt, sagt der Holländer. Sind Bäume nicht von Natur aus öko? „Alle gespritzt“, sagt der Holländer. Und ich dachte immer, die Weihnachtskopfschmerzen stammten vom Sherry.

Hans war zu Hause geblieben, um noch rasch ein Dutzend Präsente zu malen. So konnte ich pädagogisch unvernünftig Geld ausgeben.