In „Das unbekannte Mädchen“ setzen die Dardenne-Brüder auf das Genre Krimi, statt wie sonst auf ein Sozialdrama – gelungen

Um mit einem auf den ersten Blick unpassenden Vergleich anzufangen: So wie sich der Woody-Allen-Fan in New York auszukennen glaubt, ergeht es dem Anhänger der Regiebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit dem belgischen Städtchen Seraing. Der oft verhangene Himmel, das wenig idyllische Nebeneinander von Industrieanlagen und Wohnhäusern, das alles prägt ihre Filme genauso wie ihr feines Gespür sowohl für Laiendarsteller als auch für die in ihren Filmen wiederkehrenden Schauspieler. Und wo man sich bei Woody Allen mit der Stadtkulisse auf einen bestimmten Ton des Humors einstellt, erwartet man bei den Dardennes einen gewissen Ernst, ein Einlassen auf soziale Problemlagen. Der unpassende Vergleich hilft so gesehen, das Dardenne-hafte der Dardenne-Filme zu entblößen.

In ihrem neuen Film „Das unbekannte Mädchen“ scheint zunächst alles wie gehabt: Man ist zurück in Seraing, die Kamera folgt den Figuren aufmerksamer und von Olivier Gourmet bis Jérémie Renier tauchen viele vertraute Gesichter auf. Neu dabei ist Adèle Haenel, die hier mit zupackendem, verhaltenem Charme die Figur im Zentrum spielt.

Jenny hat gerade ihre Facharztausbildung abgeschlossen und vertritt ihren älteren Kollegen, in dessen Praxis sie gelernt hat. Gerade belehrt sie ihren Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud) darüber, dass ein Arzt seine Emotionen im Griff haben müsse, als es in der bereits geschlossenen Praxis klingelt. Julien möchte noch öffnen, Jenny insistiert, es sei zu spät. Eine Entscheidung, die sie bereuen wird, denn wenig später findet man in der Nähe die Leiche einer Migrantin aus Afrika. Die Hauskamera belegt, dass sie es war, die geklingelt hat. Für Jenny beginnt damit eine Suche in zwei Richtungen: zum einen hinterfragt sie ihre eigenen Denkweisen. Zum anderen macht sie sich auf, mehr über die Frau zu erfahren. Während die Kamera sich wie gewohnt von anderen Dardenne-Filmen an ihre Fersen heftet, kommt zugleich ein neues Element hinzu: Statt Sozialdrama entfaltet sich ein Krimi.

„Das unbekannte Mädchen“ ist so gesehen einer der oberflächlich unterhaltsamsten Filme, die die Brüder je gemacht haben. Und doch spielt sich das eigentlich Interessante weniger in den teils riskanten Aktionen der Heldin ab als vielmehr in ihren Zweifeln – und vor allem in ihrer Beziehung zu dem Praktikanten, von dem sie sich infrage gestellt sieht.

„Das unbekannte Mädchen“ B/F 2016, 106 Min., ab 6 J., R: Luc + Jean-Pierre Dardenne, D: Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, im Abaton, 3001 (OmU)