Annette Stiekele

eutzutage müssen sich Museen etwas einfallen lassen, um ihre Besucher nachhaltig mit Inhalten zu fesseln. Für Silke Oldenburg, Leiterin der Vermittlung am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, reichen da die international üblichen Audioguides nicht aus. „Sie liefern keinen wirklichen Mehrwert.“ Mit der aufwendigen, gemeinsam mit dem NDR Hörfunk entwickelten App „Im Sog der Zeit“ erfährt der MKG-Besucher dagegen Wissenswertes über die historischen Innenräume, begehbare Denkmäler der über 300 Jahre reichenden Kulturgeschichte, und das auf packende, unterhaltsame Weise. Willkommen im digitalen Zeitalter. „Der Besucher hat jetzt die Chance, zu verstehen, wie der Raum funktioniert hat. Er bekommt einen atmosphärischen, vertiefenden Zugang zu unseren Sammlungen“, sagt Oldenburg. Das gilt es auszuprobieren.

Per Smartphone lade ich die App herunter, und los geht’s. Bald fühle ich mich wie eine Figur in einem Hörspiel. Die übrigen Besucher kommen mir wie Statisten vor. In der Abteilung Historismus führt der Weg zum prachtvollen, von französischer Schlossarchitektur des 17. Jahrhunderts inspirierten Spiegelsaal, der auch heute noch als Konzertsaal genutzt wird. 1908 erhielt ihn Emma Budge von ihrem Mann als Geschenk, und schon befinde ich mich akustisch mitten auf einem Geburtstagsball. Kein Geringerer als der große Caruso tritt auf. Und schon habe ich den italienischen Startenor mit „O sole mio“ auf den Ohren. Ich darf sogar ein Schwarz-Weiß-Selfie gemeinsam mit ihm anfertigen. Diese launigen digitalen Spielereien lockern den Rundgang auf. Weiter geht es um wenige Ecken ins „Abendroth-Zimmer“. Das spätklassizistische Zimmer, zwischen 1832 und 1836 entworfen von dem Architekten Alexis de Chateauneuf, besticht mit Malereien im pompejanischen Stil, bei denen sich der Maler Carl Julius Milde an Vorbildern in Neapel orientierte. Die angenehme Stimme auf meinem Ohr von Radiosprecher Martin Wilhelmi erläutert mir allerlei über der Tür angebrachte fantastische Mensch- und Tierfiguren, Götter, Musen und Fabelwesen. Ein paar Schritte zurück, und ich befinde mich in der edel gestalteten Schiffskabine, in der Karl Sieveking als Gesandter des Senats einst in Handelsmission eine Überseefahrt nach Brasilien unternahm. Je nachdem, wie ich das Smartphone halte, befinde ich mich ober oder unter Deck.

Verspielt geht es auch im Wilstermarscher Zimmer weiter, wo ich die Kacheln des Bauernhauses bewundernd vieles von Pfeife rauchenden Bauersfrauen Mitte des 18. Jahrhunderts erfahre und mit dem Smartphone das gute Marschbier trinken kann. Virtuell zumindest. Weiter folge ich der Treppe in den ersten Stock und wohne in der Jugendstil-Abteilung einer Pressekonferenz von 1901 bei, auf der Museumsgründer Justus Brinckmann etliche Objekte, etwa das „ Pariser Zimmer“, ein Speisezimmer aus Obstbaumhölzern, präsentiert, die er zuvor auf der Weltausstellung in Paris erworben hatte.

Weiter führt der Weg durch verwinkelte Museumsgänge, wo ich höllisch aufpassen und genau der Stimme folgen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren. Vorbei an der Frankfurter Küche von 1926, der ersten Einbauküche, geht es in die Design-Abteilung zum Büro des 1997 emeritierten HfbK-Professors Dieter Rams, der maßgeblich das funktionsorientierte Design für Geräte der Firma Braun entwickelte.

Endpunkt ist die sagenhaft farbige Spiegel-Kantine, die Verner Panton 1969 schuf, mit Speiseraum und Snackbar. Hier verweile ich gleichermaßen geblendet von den grellen Pop-Farben und Formen. Besser kann die Verbindung von Kunst und Technik nicht gelingen.