Im Thriller „Girl On The Train“ rätselt der Zuschauer lange, was wahr ist und was Einbildung

Früher, das war aber noch vor dem Handywahn, war Zugfahren nicht nur eine Art der Fortbewegung, sondern auch eine Form des Müßiggangs. Da saß man einfach am Fenster, blickte hinaus und überlegte, wer wohl in den Häusern lebt.

Wer weiß, wie viele Romane auf diese Weise ihren Ausgang nahmen. Dann aber gab es einen Roman, der genau diese Situation selbst zum Stoff machte. Das Buch von Paula Hawkins, im Januar 2015 erschienen, wurde in Rekordzeit zum Bestseller. Und wurde in Rekordzeit verfilmt.

In „Girl On The Train“ fährt eine Frau Morgen für Morgen im immerselben Pendlerzug aus dem Vorort in die Stadt. Sie schaut auf die Häuser, die an ihr vorbeiziehen. Sie weiß allerdings genau, wer hier wohnt: Ihr Ex-Mann mit seiner neuen Frau. Und ihrer gemeinsamen Tochter.

Diese Frau, Rachel heißt sie, hat alles verloren. Warum, das sieht man ihr sofort an, mit ihren fettigen Haaren, den ausgetrockneten Lippen und dem glasigen Blick. Sie ist Alkoholikerin. An ihrem alten Haus fährt sie aus reinem Masochismus vorbei. Den Weg zur Arbeit bräuchte sie nicht mehr einzuschlagen, auch ihre Stelle hat sie der Sucht wegen verloren. Für sie scheint der Zug buchstäblich abgefahren zu sein. Das Leben zieht an Rachel vorbei.

Als ideales Gegenstück erscheint ihr wenige Häuser weiter ein Paar, das so jung und verliebt scheint, wie Rachel es einst selbst war. Jeden Tag hält der Zug aufs Neue an eben diesem Streckenabschnitt. Bis die Frau dort eines Tages einen Mann umarmt, der definitiv nicht ihr Gatte ist. Kurz danach verschwindet sie auf mysteriöse Weise. Als Rachel davon aus den Medien erfährt, meint sie, der Polizei von dem Fremden erzählen zu müssen. Und gerät unvermittelt selbst in Verdacht. Immerhin hat sie selbst Erinnerungslücken.

Charlotte Bruus Christensen erfand an der Kamera ganz eigene Bildsprachen

Aus diesen verschwommenen, vernebelten Fetzen muss sich der Zuschauer sein eigenes Bild zusammensetzen. Und sich immer wieder fragen, ob er dem Ganzen überhaupt trauen kann oder ob das nur Halluzinationen sind.

Kamerafrau Charlotte Bruus Christensen erfand für jede der Frauenper­spektiven des Films eine eigene Bildsprache: eine unruhige, verwackelte für Rachel, eine fast statische für die neue Frau des Ex-Mannes, und eine, die stets in Bewegung bleibt, für die Fremde am Balkon.

In der Hauptrolle brilliert Emily Blunt, die seit ihrem Durchbruch als zickige Sekretärin in „Der Teufel trägt Prada“ eigentlich in jedem ihrer Filme aufs Neue überrascht. Ihre Rachel dürfte bislang ihre größte darstellerische Herausforderung sein, und sie spielt sie eindringlich, verstörend, geradezu Oscar-reif.

Dass „Girl On The Train“ am Ende nicht der ganz große Wurf geworden ist, sondern nur ein Emily-Blunt-Film, liegt daran, dass der Regisseur sein Verwirrspiel anfangs fast übertreibt und dem Ganzen am Ende aber selbst nicht mehr vertraut.

Die reizvolle subjektive Erzählper­spektive ersetzt er zu Guter letzt durch ein allzu eindeutiges Ende. Das ist bedauerlich, zeigt aber zugleich, dass eine erfolgreiche Vorlage noch lange kein Garant für einen Erfolgsfilm ist.

„Girl On The Train“ USA 2016, 112 Min., ab 16 J., R: Tate Taylor, D: Emily Blunt, Justin Theroux, Luke Evans, täglich im Abaton, Passage, Studio,
UCI /Mundsburg/Othmarschen/Wandsbek;
www.girl-on-the-train-film.de