Berlin.

Es ist eine Art immerwährender Frühjahrsputz: Abfall wird beseitigt, selbst größerer Sperrmüll kommt weg. Anders als beim Putzen kosten die in Zellen ablaufenden Autophagie-Prozesse aber nicht nur Energie, sondern helfen auch beim Sparen. Das in seine Grundbausteine zersetzte Material wird zum Aufbau neuer Zellkomponenten genutzt. Für die Ent­deckung wichtiger Facetten dieses lebenswichtigen Recycling-Systems erhält der Japaner Yoshinori Ohsumi den diesjährigen Nobelpreis für Medizin.

„Der Einfluss der Entdeckung ist enorm und kann nur mit einem ungeteilten Nobelpreis anerkannt werden“, betont die Zellforscherin Tassula
Proikas-Cezanne von der Universität Tübingen. Ein bescheidener Grundlagenforscher sei der Japaner und seiner Zeit voraus gewesen, lobt Volker Haucke, Direktor des Leibniz-Instituts für Molekulare Pharmakologie in Berlin. Der Preisträger selbst zeigte sich überwältigt: „Das ist eine Freude für einen Forscher, die nicht zu übertreffen ist“, sagt der 71-Jährige am Montag.

Grundlegende Fragen mit neuen Methoden beantwortet

Der Prozess der Autophagie ist in Grundzügen seit den 60er-Jahren bekannt. Wissenschaftler untersuchten den Mechanismus dann in Hefen näher, weil das bei diesen einzelligen Pilzen weit einfacher möglich ist als bei Tieren oder Menschen. Viele der an den Prozessen mitwirkenden Proteine haben sich im Lauf der Evolution kaum verändert und sind nahezu identisch mit denen in menschlichen Zellen.

Den Abläufen auf die Spur zu kommen, bedeutete Fleißarbeit: Ohsumis Team untersuchte Tausende Hefen und identifizierte 15 für die Autophagie entscheidende Gene. Er zeigte, welche Proteine und Stoffwechselwege im Einzelnen an dem System beteiligt sind und auch, wie diese reguliert werden. „Ich habe zu Beginn meiner Forschung zur Autophagie-Thematik seine Arbeiten gelesen und war begeistert von seiner Wissenschaft“, sagt Proikas-Cezanne. „Er hat grundlegende Fragen gestellt und diese mit eleganten neuen Methoden beantwortet.“ Die gefundenen Gene hätten eine völlig neue Dimension der molekularen Zellbiologie erschlossen.

Der Begriff Autophagie stammt aus dem Griechischen und bedeutet etwa „sich selbst fressen“. Der Begriff umschreibt nicht nur einen, sondern verschiedene, miteinander verwandte Prozesse. Sie alle haben fast immer eine positive Auswirkung: Aller Abfall der komplexen Zellmaschinerie sowie alte oder beschädigte Teile der Maschinerie selbst werden in einer Art Schreddersystem zerhäckselt. Die entstehenden Grundbausteine werden wiederverwendet. „Ohne Autophagie würden unsere Zellen nicht überleben“, erklärt die Forscherin Juleen Zierath, die zur Nobelpreis-Jury gehörte.

„Dieses genetische Programm bewirkt vom Einzeller Hefe bis zu uns Menschen die kontinuierliche Erneuerung der Zellen“, erklärt Proikas-Cezanne. „Wenn der Mechanismus gestört ist, spiegelt sich das in vielen Erkrankungen wider.“ Lebenswichtig für die Zellen ist er zum Beispiel bei falsch zusammengesetzten oder verschlissenen Proteinen, die Funktionseinbußen oder Fehlfunktionen bedeuten können und daher rasch beseitigt werden müssen. Autophagie schützt so vor Betriebsunfällen mit potenziell verheerenden Folgen für die Zelle.

Weggefressen und demontiert werden zudem eingedrungene Bakterien und Viren. In Hungerzeiten beschränkt das System das funktionelle Mobiliar der Zellen auf das nötigste und „verheizt“ alles übrige Material – ähnlich wie ein hungernder Körper erst einmal alle Fettreserven nutzt, bevor er Muskelmasse abzubauen beginnt.

Problematisch wird es, wenn Autophagie-Prozesse fehlerhaft ablaufen. Defekte Autophagie-Mechanismen in bestimmten, für die Kontrolle der Darmflora zuständigen Dünndarmzellen könnten zum Beispiel bei der entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn eine Rolle spielen. Bei manchen Patienten ist das Autophagie-Gen ATG-16 blockiert.

Auch Hinweise auf einen Beitrag zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson gibt es. „Es scheint so zu sein, dass im zellulären Altern die Autophagie herunterreguliert wird“, erläutert der Berliner Forscher Haucke. Dies fördere offenbar die Anreicherung defekter Eiweiße. Generell spiele dies bei fast allen altersbedingten Erkrankungen eine Rolle – von Krebs über Autoimmuner­krankungen bis zu neurodegenerativen Krankheiten, sagt Proikas-Cezanne.

In bestimmten Fällen kann allerdings auch ein bestens funktionierendes Autophagie-System mehr schaden als nutzen: wenn es Krebszellen hilft, die bei einer Strahlen- oder Chemotherapie entstehenden Schäden zu beseitigen und sie so überleben lässt.

Wissenschaftler hoffen darauf, Autophagie-Prozesse künftig mit Medikamenten gezielt hoch- oder herunterregeln zu können – etwa, um den altersbedingten Verfall der Hirnfunktion zu verzögern. Getüftelt wird auch an der Möglichkeit, die spezifischen Angriffsziele der Systeme zu beeinflussen. „Das Wissen hat schon Einzug genommen in klinische Studien“, betont Proikas-Cezanne. „Das wird in den nächsten Jahrzehnten enorme Auswirkungen in der Medizin haben.“

Yoshinori Ohsumi selbst sieht seine Arbeit als noch nicht beendet an. „Seit 27 Jahren arbeite ich an dem Thema, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich das alles verstanden habe. Es gibt noch vieles zu entdecken, und ich möchte meine Forschung weitertreiben“, sagte Ohsumi am Montagabend dem japanischen Fernsehsender NHK.