Kraftvolle Bildsprache, herausragende Hauptdarsteller: Fatih Akins Verfilmung der Tragikomödie „Tschick“ ist grandios

Regisseur Fatih Akin hat Wolfgang Herrndorfs Romanvorlage zuletzt öfter mal eine „heilige Kuh“ genannt. Und das ist nicht nur insofern ein gutes Bild, als „Tschick“ eines der erfolgreichsten Bücher der vergangenen Jahrzehnte ist, millionenfach verkauft, mit Preisen zugeschüttet und in seiner Bühnenfassung das meistgespielte Stück des vergangenen Theaterjahres – weit vor Goethes „Faust“. Sondern auch, weil mit dem Begriff des Heiligen assoziativ ein Abbildungsverbot verbunden ist – und da steht ein Regisseur als Herrscher über Bilder vor einem ­Problem.

Die spannendste Frage an diesen Film lautete von vornherein, wie er das hinkriegen würde, diesen ungeheuer echt und soghaft wirkenden Bewusstseinsstrom eines 14-jährigen Jungen vom Medium der Sprache ins Reich der Bilder zu versetzen. Wie er das schaffen würde, ohne sich selbst und die eigenen Stärken ­dabei zu verraten, ohne zur bloßen Illustration eines großartigen Textes zu verkümmern.

Das geht doch nicht, zweifeln insgeheim viele, die den Roman lieben und sich ihr ganz privates Bild gemacht haben vom wohlstandsverwahrlosten Außenseiter Maik Klingenberg aus Hellersdorf, von seinem Freund Andrej Tschichatschow alias Tschick und von ihrer Sommerreise in einem geklauten Lada Niva – vom „besten Sommer von allen“, den dieses Buch so hinreißend ausmalt, dass man eifersüchtig wird auf alle, die in ihrem Leben noch nicht 14 Jahre alt waren und das alles so ähnlich noch erleben dürfen.

Und die ebenso erleichternde wie schöne Nachricht lautet jetzt, dass genau das eben doch geht – wenn man nur ein Team versammelt, das mit der gleichen Akribie und ähnlichem Talent an seine Arbeit geht, die Wolfgang Herrndorf in seine Bücher investierte. Nachdem David Wnendt („Die Kriegerin“) als Regisseur wegen Terminschwierigkeiten absagen musste, übernahm Fatih Akin die Aufgabe, der seiner kraftvollen Bildsprache auch in „Tschick“ treu bleibt.

Mit Lars Hubrich fand sich ein Drehbuchautor, der das Buch aus der nächsten Nähe kennt – und zugleich eine gesunde Abneigung hegt gegen die erzählerischen Klischees, die Literaturverfilmungen oft so schwer erträglich machen. Und mit der Besetzung der beiden Hauptfiguren hat der Film, man kann es nicht anders sagen, einen echten Volltreffer gelandet.

Tristan Göbels Gesicht zeigt den hormonellen Terror jener Jahre

Da ist zunächst Tristan Göbel als Maik Klingenberg, den jüngere Zuschauer zum Beispiel vor zwei Jahren in „Rico, Oscar und die Tieferschatten“ gesehen haben. Er kann diese Rolle nicht nur glaubwürdig verkörpern, weil er genau das richtige Alter hat und sich in seinem Gesicht deshalb der hormonelle Terror jener Jahre mitsamt Bartflaum und Hautsensationen in Echtzeit vollzieht. Sondern auch, weil er etwa mit minimalen Regungen die Verzweiflung erkennbar machen kann, in die es einen Jugendlichen stürzt, wenn ihn das schönste Mädchen der Klasse nicht zu seiner Party einlädt. Fatih Akin weiß das und nutzt es, indem er Göbels Gesicht immer wieder in Naheinstellung die Leinwand füllen lässt. Er vertraut ­seinen Schauspielern und unterlässt es wohltuend oft, mit eingesprochener Off-Stimme die sprachlichen Stärken des Romans nachzubeten.

Und dann ist da Anand Batbileg, der den Tschick spielt. Von ihm heißt es im Roman: „Er war ein Russe, wie sich dann rausstellte. Er war so mittelgroß, trug ein schmuddeliges weißes Hemd, an dem ein Knopf fehlte, 10-Euro-Jeans von Kik und braune, unförmige Schuhe, die aussahen wie tote Ratten. Außerdem hatte er extrem hohe Wangenknochen und statt Augen Schlitze. Diese Schlitze waren das erste, was einem auffiel. Sah aus wie ein Mongole und man wusste nie, wo er hinguckte. Den Mund hatte er auf einer Seite leicht geöffnet, es sah aus, als würde in dieser Öffnung eine unsichtbare Zigarette stecken.“

Anand Batbileg sieht in „Tschick“ nicht nur exakt so aus. Er überzeugt auch als der Widerpart zum vorsichtigen Maik, als „Asi“, wie dieser ihn nennt: Als einer, der Autos klaut und darin mit seinen 14 Jahren über die Autobahn brettert, der gern eine Flasche Schnaps dabei hat und die Sprache der Straße spricht.

Es ist ein große Freude, mit einem alten Lada durch Maisfelder zu brettern

Wenn man die beiden zusammen sieht, fällt es schwer, nicht an Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu denken – ein Figurenduo, das Wolfgang Herrndorf unter anderem im Sinn hatte, als er das Buch schrieb.

Das alles reicht aus, um dem Film schnell zu dem Erlebnis zu machen, den auch das Buch bereithielt: Das Gefühl, jung zu sein, auszubrechen und die Welt als Raum unbegrenzter Möglichkeiten zu erleben.

Wer etwas älter ist, mag sich vielleicht an der Musikauswahl stören, die sich abgesehen von der vom Buch vorgegebenen Richard-Claydermann-Ballade „Pour Adéline“ sehr klar an eine jugend- liche Zielgruppe wendet und den Film manchmal emotional überfrachtet. Doch das mindert kaum den Spaß daran, mit einem alten Lada durch Maisfelder zu brettern, vor der Polizei zu fliehen, unter dem Sternenhimmel zu liegen und vielleicht irgendwann ein Mädchen zu ­küssen.

Die Freude daran ist der Kern von „Tschick“. Jetzt ist sie auf der Leinwand sichtbar.

„Tschick“ D 2016, 93 Min., ab 12 J., R: Fatih Akin, D: Tristan Göbel, Anand Batbileg, Uwe Bohm,
Udo Samel; täglich im Abaton, Cinemaxx Dammtor/
Harburg/Wandsbek, Hansa, Koralle, Studio,
UCI Mundsburg/Othmarschen/Wandsbek, Zeise; www.tschick-film.de