Elmshorn. Die Extremsportlerin Anke Tinnefeld trainiert dafür, zwischen Dover und Calais durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Die Luftlinien-Distanz beträgt 38 Kilometer

Das Freibad in Horst. Ein 50-Meter-Becken im Grünen. Der überdachte Eingang mit den Umkleidekabinen hat den nostalgischen Charme der 60er-Jahre. Quer durch das Becken wandern zwei Frauen mit gymnastischen Bewegungen. Im Wasser zieht eine Frau einsam ihre Bahnen – ruhig und gelassen, seit fast zwei Stunden, immer im gleichen Tempo. Wer käme schon auf die Idee, dass sich die Frau in dieser Feierabend-Idylle auf einen harten, kalten und wahrlich nicht ungefährlichen Kampf mit den Gewalten der Meere vorbereitet?

Anke Tinnefeld, die 42 Jahre alte Langzeit-Schwimmerin aus Elmshorn, will zu der erlesenen, weltweiten Gemeinschaft der Schwimmer gehören, die dem Ärmelkanal zwischen Frankreich und Großbritannien gewachsen sind. „Wie jeder leidenschaftliche Bergsteiger davon träumt, einmal vom Gipfel des Mount Everest auf die Welt herabzublicken, so ist es mein Traumziel, den Ärmelkanal zu bezwingen.“

Die Generalprobe für dieses schwierige Abenteuer hat Anke Tinnefeld glücklich durchgestanden – und natürlich gebührend gefeiert. Am 1. September 2015 durchschwamm sie den Fehmarnbelt vom deutschen Puttgarden zum dänischen Rødby. Das sind 21 Kilometer Luftlinie, aufgrund der Strömungen und des Wellengangs real aber fast 30 Kilometer. Nach sieben Stunden und 46 Minuten stieg die Extremschwimmerin vom Swim-Team Stadtwerke Elmshorn aus der Ostsee.

Und nun der Ärmelkanal? Offiziell sind es 38 Kilometer von Dover nach Calais, durch die Wasserstraße, die täglich 500 Schiffe passieren und in der die Strömungen extrem wechseln können.

Beim Langstrecken-Schwimmen zählt nur eins: das Ankommen

Der Termin ist fest gebucht. Am 14. August 2019 will Anke Tinnefeld in Dover ins Wasser steigen und nur noch einen Gedanken in ihrem Kopf aufkommen lassen: „Du willst am französischen Ufer in Calais ankommen.“ Sie fügt hinzu: „Alles andere, alle Zweifel, alle Ängste musst du unterdrücken. Auch wenn die Kälte weh tut, richtig weh tut, du darfst nur positive Gedanken zulassen. Langstrecken-Schwimmen, das ist letztlich reine Kopfsache.“

Eine Aussage, die man im Sport überall und immer wieder zu hören bekommt. Wenn aber die Steuerfachangestellte erzählt, welche mentalen Strategien sie anwenden will, um die Stunden im Wasser durchzuhalten, reagieren manche Zuhörer irritiert.

So ist geplant, dass ein Freund aus der Extremschwimmer-Szene ebenfalls eine Grenzerfahrung auf sich nimmt, wenn Anke Tinnefeld in Dover ins Wasser geht. Der Berliner Matthias Kessler will zur selben Zeit den Santa-Catalina-Kanal durchschwimmen, einen 35 Kilometer breiten Meeresabschnitt im US-Bundesstaat Kalifornien, zwischen der Stadt Los Angeles und der Insel Santa Catalina. Die Strecke ist bei Langstrecken-Schwimmern ebenfalls beliebt.

„Wir haben verabredet, dass wir gemeinsam schwimmen“, erzählt Anke Tinnefeld. „Wie, gemeinsam schwimmen? Sie in der Nordsee und er im Pazifik?“ Sie lacht und sagt: „Ja, das funktioniert. Wenn ich intensiv genug an ihn denke, spüre ich ihn neben mir. Und ich kann ihm klagen, dass mir die Kälte im Wasser schrecklich weh tut. Und er sagt: ,Nein, jetzt wird dir wärmer. Spürst du das schon?’ Und mir wird tatsächlich wärmer, und ich fühle mich nicht mehr so allein.“

Deshalb werden die Familie, werden Freunde und Bekannte am 14. August 2019 intensiv an sie denken müssen. „Darauf schwöre ich die vorher ein. Dann kann ich mich, wenn ich zehn Meter neben dem Begleitboot im Ärmelkanal kraule, mit ihnen unterhalten“, sagt Anke Tinnefeld. „Ich bin schon so geübt darin, dass ich vorher Zeiten mit ihnen abspreche. Wenn ich weiß, die denken jetzt an mich, sind sie mir mental im Wasser näher.“

Die Extremsportlerin strahlt Ruhe und Lebensfreude aus

Im Begleitboot hatte vor einem Jahr Freundin Anja Klawitter für heißen Ostfriesen-Tee und Energy-Drinks, für Weingummis und für Pfirsiche aus der Dose gesorgt. „Die schmecken zwar salzig, durch das Wasser“, erläutert Anke Tinnefeld, „aber ich kann sie schnell schlucken. Das ist ja wichtig im Wasser.“

Menschen, die im Sport wie im Leben Extremen hinterherjagen, wirken häufig angestrengt und verbissen. Anke Tinnefeld, die jede Woche mindestens 30 Kilometer in Horst oder Elmshorn schwimmt und insgesamt 15 Stunden und mehr trainiert, strahlt Ruhe und Ausgeglichenheit aus. Und vor allem: Freude am Leben. „Das hat wohl auch damit zu tun, dass in unserem Sport die Diktatur der Minuten und Sekunden nicht gilt“, sagt sie. „Die Zeit, die ich brauche, um anzukommen, spielt für mich überhaupt keine Rolle.“

Der Ehrgeiz schon. Den hatte sie schon als kleines Mädchen. Mit fünf Jahren saß sie das erste Mal im Sattel, mit 20 kaufte sie sich anstelle eines ersten eigenen Autos „Laura“ – ihr erstes eigenes Pferd. 2012, nachdem sie zum Elmshorner Triathlon-Team gewechselt war, meisterte sie in Roth (Bayern) den Triathlon mit den brutalen Iron-Man-Distanzen – also 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen – in 13 Stunden und 29 Minuten. Als Anke Tinnefeld vor sechs Jahren ihren Schwimmtrainer fragte, ob sie ihre erste Langstrecke über 14 Kilometer schwimmen könne, bekam sie zur Antwort: „Nein, das schaffst du nicht.“ Jeder, der Anke Tinnefeld wirklich kennt, wusste: Jetzt hat es sie gepackt.

Versuchen, was andere für unmöglich halten: Das ist ihr Lebensmotto. Der 14. August 2019 ist noch weit weg. Aber es dürfen Wetten angenommen werden – das wird Anke Tinnefeld schaffen.