Der New Yorker John Wray liest aus „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“

Will man einen Lichtstrahl in staubiges Dunkel lenken, dann gibt es nichts Besseres, als eine Familiengeschichte zu schreiben. Waldemar Tolliver begibt sich bei dem Versuch, Herr seiner eigenen Geschichte zu werden, zurück bis ins Wien der Zeit um 1900. Während er in seinem zugemüllten Apartment am Central Park in New York hockt, abgekapselt von der Außenwelt und gefangen in einer existenziellen Krise, lässt er 100 Jahre Familiengeschichte Revue passieren – in der Hoffnung, durch die Erforschung der Vergangenheit die Gegenwart besser ertragen, in einen größeren Sinnzusammenhang heben zu können.

John Wray, 1971 als Sohn einer österreichischen Onkologin und eines amerikanischen Leukämieforschers in Washington geboren und heute in New York zu Hause, legt mit „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ (Rowohlt Verlag) einen schwindelerregenden Abenteuerroman mit unwiderstehlichen Figuren vor. Bei allem philosophischen Überbau gelingt Wray ein pralles Familienepos in Tradition der literarischen Über-Familie Buddenbrook. Bei der Tolliver-Sippe handelt es sich um einfache, hart schuftende Gewürzgurkenanbauer und Hobby-Physiker im Herzen. Waldemars Urgroßvater hat sich in den Kopf gesetzt, im Alleingang das Mysterium der Zeit zu ergründen. Am Morgen seines Todes, so erzählt es die Familienlegende, gelang ihm schließlich der lang ersehnte Forschungsdurchbruch. Dumm nur, dass sämtliche Unterlagen bei seinem Unfall mit dem Automobil vernichtet wurden. Die nachfolgenden Generationen ächzen fortan unter dem Druck, Wissenschaftsnotizen aufzuspüren, physikalische Experimente weiterzuführen, auf dass der Familienname doch noch seinen rechtmäßigen Platz in den Annalen der Physik erhalte. Das Selbstbewusstsein von Waldemars Urgroßvater und seinem Bruder leidet nicht unerheblich darunter, dass ein gewisser Albert Einstein weltweit Schlagzeilen macht und schließlich den wissenschaftlichen Mainstream erobert mit ganz ähnlichen Theorien, wie sie die Tolliver-Familie als Forschungsgrundlage verwendet – und all dies „mit jener absurden, kindisch leicht klingenden, ja fast beleidigend einfachen Formel E = mc²“.

John Wary ist ein genialer Spurensucher (private Hobbys: Fischen und Pilze sammeln), dem die amerikanische Literaturszene nicht umsonst eine große Schriftstellerzukunft prognostiziert (Jonathan Lethem: „John Wray ist die nächste Welle der amerikanischen Literatur“). Widerstand gegen das Systemdenken und die Erfahrung der menschlichen Verunsicherung hat der Autor bereits in seinen vorherigen Romanen „Retter der Welt“ und „Die rechte Hand des Schlafes“ verarbeitet. In „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ (der Titel erinnert nicht von ungefähr an Marcel Proust) treibt er die Infragestellung der Realität auf die Spitze: Zu keinem Zeitpunkt kann sich der Leser gewiss sein, ob es sich bei dem liebeskummergebeutelten Waldemar Tolliver am Schreibtisch seiner New Yorker Bleibe um einen zuverlässigen Erzähler handelt. Oder um einen jungen Mann, der einfach zu viel Science-Fiction-Filme geguckt hat, der Echtwelt schon lange Richtung Wahnsinn verloren gegangen ist.

Geschildert wird die Familiengeschichte via Bande über eine gewisse Mrs. Haven, eine flüchtige Partybekanntschaft, die den armen Waldemar Tolliver jedoch nach der ersten Begegnung (unterm Küchentresen!) wie von einem mittelschweren Erdbeben erschüttert zurücklässt. Von diesem Moment an zählt allein die mit bürgerlichem Namen Hildegard getaufte Frau (ihre Ehe gerät rasch zur Nebensächlichkeit) – und weil in Tollivers Augen das Leben nur dann Sinn erfährt, wenn der Liebe zwischen zwei Menschen durch physikalische Gesetze Absolution zuteil wird, steigt er tief hinab ins Ahnenarchiv mit dem Ziel, den Unterschied zwischen Leben und Tod im Zeitkontinuum zu verstehen. Die Zeit sei der Fluch seiner Familie, schreibt Tolliver an Mrs. Haven, die Prinzessin in Parka und Pelz. Andererseits ist die Zeit-Frage das, was ihn und seine Herkunft definiert: „Ohne das Geheimnis der verlorenen Zeit würde ich mich von diesen gewöhnlichen Menschen nicht unterscheiden.“ Die Wissenschaft, sie ist Distinktionsmerkmal und Familienreligion gleichermaßen.

Keine sorgsam verborgene Lebenslüge, kein schmutziges Detail, keinen verfrühten Tod verschweigt Tolliver seiner fernen Angebeteten, die er sich in seinem nicht enden wollenden Erinnerungsmonolog in seine Nähe fantasiert. „Ich werde Dir die Tollivers erklären, Mrs. Haven, Dir eine Privatführung durch unser kleines, schäbiges Kuriositätenkabinett geben, aber damit Du auch wirklich alles sehen kannst, werde ich zuvor mit der Axt auf die Vitrinen einschlagen.“

Bei aller Theorieschwere hat sich der Roman eine Leichtigkeit bewahrt

Wrays mehr als 700 Seiten dickes Werk strotzt nur so vor Epochenbewusstsein und intertextueller Bezüge. Mitnichten muss man jedes physikalische Detail verstehen, um den großen Erzählstrang wertzuschätzen, der in detailgenauen Schilderungen die so eigenartigen wie stolzen Mitglieder der Tolliver-Familie zum Leben erweckt, deren Namen schon von ihrer Ungeheuerlichkeit zeugen: Wer Enzian und Gentian heißt, kann wahrlich kein Durchschnittsmensch sein. „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ ist nicht auf literarischen Fast-Food-Konsum ausgelegt. Darwins Prinzip der natürlichen Auslese und Newtons Postulat der absoluten Zeit spielen ebenso eine Rolle wie die Unschärferelation von Werner Heisenberg. Von Nietzsche bis Descartes schlägt der Roman die Brücke, das Tempo ist so rasant, wie der gleichsam aus der Zeit gefallene Waldemar Tolliver durch die Weltgeschichte purzelt. Aber bei aller Theorieschwere hat sich Wray in seinem Schreibstil eine angenehme Leichtfüßigkeit bewahrt. Sein Sound ist ironisch-gewitzt, in die wissenschaftlichen Fakten rutscht immer wieder ein Fluch oder ein lebenspraller Seufzer hinein.

Seit mehr als 20 Jahren lebt Wray bereits in New York City (wohl auch deshalb geraten ihm die gegenwärtigen Manhattan-Szenen so glaubhaft), davor war er der einzige Taxifahrer auf einer Insel in Alaska, Landschaftsgärtner in Texas, er arbeitete in einer Galerie und als Babysitter. Alle Jobs wurden ihm binnen weniger Wochen wegen seiner Faulheit gekündigt, erzählte der Autor einmal in einem Interview. „Ich betrachte mich selber als ziemlich faulen Menschen, weil ich sehr viel Zeit jeden Tag damit verbringe, die Arbeit zu meiden. Ich brauche jeden Tag, jeden Morgen etliche Stunden, bis ich mich dazu zwingen kann, mich wirklich hinzusetzen und an die Arbeit zu gehen. Ich verschwende wahnsinnig Zeit damit. Das ärgert mich auch sehr“, so Wray.

Für die Lektüre von „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ braucht es eine Portion Zähigkeit und Ausdauer (und ja, auch: ziemlich viel Zeit). Entschädigt wird der Leser mit einem ungemein raffinierten Mix aus Wissenschaft und Philosophie, Pop und Unterhaltung. Mit Figuren, wie man ihnen nicht an jeder Straßenecke begegnet: Genies und Kriminellen, Verlierern und Visionären. „Zeit ist überall und nirgends, allgegenwärtig, aber unsichtbar, genau wie der Ehebruch“, behauptet Waldemar Tolliver in seinem Brief an die zauberhafte Mrs. Haven. Noch sicherer ist er sich nur bei dieser Feststellung, für die man wahrlich nicht Physik studiert haben muss: „Jeder Augenblick, der vergeht, ist verlorene Zeit.“ Die Lektüre von John Wrays Roman ist das Gegenteil von verlorener Zeit.

John Wray 23.9., 20 Uhr, Zentralbibliothek der Bücherhallen, Tickets zu 14 Euro T. 30 30 98 98.