Amatrice.

Da ist es wieder, das verdammte Beben. Wie eine Bestie, eine unsichtbare Hand. Es reißt die Menschen in der Trattoria von den Tischen. Es lässt einige Kilometer weiter das Rathaus in Amatrice endgültig einstürzen. Ein Nachbeben von 4,3 auf der Richterskala. Die Menschen, die hier sitzen, sind die Überlebenden des schweren Erdbebens. Es hatte am frühen Mittwochmorgen vier Dörfer der Gegend, Amatrice, Accumoli, Pescara und Arquata di Tronto – alle im Dreieck zwischen den Regionen Latium, Marken und Umbrien gelegen – dem Erdboden gleichgemacht. Insgesamt gibt es bis jetzt 250 Opfer. Allein in Amatrice sind es 200. Die italienische Regierung hat inzwischen den Notstand ausgerufen.

Daniela, die in der Trattoria Schutz suchte, weint. Sie hat eigentlich Glück gehabt. So wie ihre 90-jährige Mutter, die sie nach Rom in Sicherheit hat bringen lassen. Aber sie bleibt hier, bis ihre Hunde wieder da sind. Die sind bei dem Erdbeben in den Wald geflohen.

Hunderte Helfer haben am Donnerstag weiter gegraben. Sie haben es die ganze Nacht hindurch getan, unermüdlich, mit Hacken, Spaten, Kränen, Baggern – und den bloßen Händen. „Manchmal geht es nicht anders. Wenn man noch auf Lebende unter den Trümmern hofft, muss man behutsam vorgehen“, sagt ein Feuerwehrmann und zieht die großen Lederhandschuhe von den Händen. Er war dabei, als am Mittwochabend ein elfjähriger Junge tot aus den Trümmern eines Hauses in Amatrice gezogen wurde. Zwölf Stunden hatte er mit seinen Kollegen geschuftet, ohne Pausen, trotz der dauernden neuen Erdstöße. Aber das Herz des Jungen, das der Life-Detektor noch über Stunden gehört hatte, schlug nicht mehr, als sie ihn fanden.

Tränen des Glücks liefen Davide Agrestini von der Spürhunde-Einheit übers Gesicht. Er hat die zehnjährige Giulia nach 17 Stunden gerettet, geführt von seinem Deutschen Schäferhund. „Ruhe! Da sind Klopfzeichen“, rief er. Doch dann war nichts mehr zu hören. Der Hund aber lief weiter, zeigte den Helfern den Weg. Sie konnten einen Kanal graben, der sie zu Giulia führte, die ohnmächtig geworden war. Sie konnten das Glück kaum fassen. 215 Menschen konnten bisher lebend geborgen werden.

Die Kinder haben ihre Ferien bei den Großeltern verbracht

Auf den Straßen fahren nicht mehr die Ambulanzen, die am Mittwoch Hunderte Verletzte in die Kliniken der Provinzstädte Riet und Ascoli Piceno und nach Rom gebracht haben. Es kommen Leichenwagen und bringen Tote nach Hause. Viele von ihnen waren Römer, die in Amatrice ein Wochenend- oder Ferienhaus hatten. Unter den Opfern waren viele Kinder, weil sie in den Ferien bei den Großeltern übernachteten.

Ein Geologieprofessor aus Turin, Gianpaolo Cimellaro, macht Bilder vom Zeltlager, in dem die Überlebenden Schutz gefunden haben. Er hatte schon das große Beben in L’Aquila miterlebt, das 2009 die Stadt fast komplett zerstörte. „Während eine Stadt wie L’Aquila wieder aufgebaut wird, weil dort viele Menschen arbeiten, riskieren Orte wie dieser, vergessen zu werden.”

Die Fragen, die sich die Menschen stellen: Wer trägt die Schuld? Warum ist die neue Schule von Amatrice, Baujahr 2012, eingestürzt? Sie war nur drei Jahre nach dem Beben in der 30 Kilometer Luftlinie entfernten Stadt L’Aquila in den Abruzzen gebaut worden, offiziell mit erdbebensicherer Architektur. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi sagte am Donnerstag, es sei wichtig, die Maßnahmen zum Schutz vor Erdbeben zu verbessern.

In den zerstörten Dörfern wollen viele Betroffene nicht in die Zelte. Sie verbringen die Nächte auf der Straße, aus Angst vor Plünderungen. Obwohl ihre Häuser noch stehen, dürfen sie nicht zurück. Auch die Angst vor Nachbeben ist groß.

Für Mario Gianmarco wird es wohl keinen Weg hierher zurück geben. Der Landwirt blickt erschüttert auf sein Haus am Rande von Amatrice. „Das war’s“, sagt er mit Tränen in den Augen. Seine Frau und sein Sohn haben überlebt, das mache ihn glücklich – aber hier werden sie nie wieder leben. Tiefe Risse klaffen in den Mauern, der Putz ist von den Wänden gefallen. Gianmarco sammelt seine Habseligkeiten auf der Straße, ein paar Decken, ein alter Fernseher, zwei Rollen Ziegenkäse.