Erinnerung an eine Begegnung im Sommer 1992. Es war heiß, es gab Spaghetti, und aus der Scheune dröhnte ein Schlagzeug

Wenn bekannte Rockstars sterben, hat man oft das Gefühl: Die Einschläge kommen näher. Wenn aber Lieblingsstars sterben, sind Millionen Fans über Tage und Wochen traurig. Mir ging es 1991 so mit Freddie Mercury von der Band Queen, dessen Stimme ich heute noch im Ohr habe, mit David Bowie und Roger Cicero in diesem Jahr. Und vor 20 Jahren, als Rio Reiser starb.

Vier Jahre vorher, an einem kochend heißen Sommertag 1992, war ich mit meinem alten Fiat stundenlang durch Nordfriesland gegurkt und hatte Reiser schließlich auf seinem Hof in Fresenhagen gefunden. Er saß auf einem Gartenstuhl im Schatten vor dem Bauernhaus, hatte eine ramponierte Nase und spielte mit einem Hundewelpen namens Alpha. Zwei Schafe knabberten die Wiese kurz, aus der Scheune dröhnte ein Schlagzeug. Reiser stellte die Kaffeemaschine an und erzählte, warum er gerade mit Peter-Michael Diestel und Gregor Gysi die „Komitees für Gerechtigkeit“ gegründet hatte. Der Aufruf sei „ein Warnschuss“, sagte er. „Ich wollte ein Zeichen setzen: Die Auffassung ,Hier ist alles richtig, im Osten alles falsch gelaufen‘ – das kann nicht sein.“ 40 Jahre DDR-Unterhaltungsmusik würden „einfach in den Keller gestellt“. Der Deutschrock sei doch eigentlich eine Ost-Tradition gewesen, aber jetzt würden die Ost-Kollegen von den Sendern nicht mehr gespielt, kämen bei den Plattenfirmen nicht mehr unter.

Es war ein klassischer Akt linker Solidarität: Reiser stellte sich auf die Seite der Verlierer, der Chancenlosen. So reagierte er schon zu Zeiten von Ton Steine Scherben. In die PDS war er auch eingetreten, allerdings ohne besonderes Engagement. Vielleicht haben die bei der PDS sich auch gar nicht gefreut. Denn in Rio Reisers Person waren so ungefähr alle Tabus versammelt, die in der DDR als dekadent galten: Er war bekennender Schwuler, hatte ein freundliches Verhältnis zu Drogen, sang von Aufruhr, zuletzt wurde ihm noch Aids angedichtet. Die Wirkung war ihm klar. „Jetzt werden viele fragen: Was hat der denn schon wieder genommen?“ Dann aßen wir Spaghetti. Auf dem Fensterbrett der Wohnküche stand eine riesige Wilhelm-Pieck-Büste, Mitbringsel aus einem Ostberliner Pionierlager, in dem Reiser und Band im Sommer 1990 mal geprobt hatten. Piecks Kopf zierte eine schwarze Faschingsperücke.

Ich habe die Reportage neulich vor einer Veranstaltung zu Reisers 20. Todestag wiedergefunden. Im ausverkauften Knust erinnerte eine Rio-Reiser-Nacht am Freitag an den Mann, der sich immer wieder zwischen alle Stühle setzte. Mit den „Scherben“ machte er ab 1971 Agitprop für die Berliner Hausbesetzer: „Keine Macht für niemand“; nach der Band-Auflösung 1985 schlug er solo andere Töne an und erntete prompt den Vorwurf, er diene sich mit seichtem Pop den Plattenfirmen an. In Wahrheit hat Reiser mit seiner Bluesröhre dem deutschen Song einen Quantensprung verpasst. Er schrieb die frechsten Gassenhauer wie „Alles Lüge“ oder „König von Deutschland“, Antikriegslieder und unzählige Balladen über den Kampf in der Liebe, darunter das in meinen Augen weltschönste Liebeslied „Für immer und dich“. In „Junimond“ haben sich Millionen Verlassene wiedererkannt: „Nee, jetzt tut’s nicht mehr weh / Und alles bleibt stumm und kein Sturm kommt auf / Wenn ich dich seh“. Keiner außer ihm sang im selben Lied („Bei Nacht“) vom Schwarzwald, von schlafenden Hasen und den Kindern in Kalkutta, ohne dass es kitschig wurde, oder „Halt dich an deiner Liebe fest“ mit dieser eruptiven Wut und Wärme. Wo wären Wir sind Helden, Silbermond, Element of Crime oder Marianne Rosenberg heute ohne Rio?

Reiser war einer, dem man beim Hören mitten ins Herz guckt. Und der ständig auf Pump seiner körperlichen Verfassung lebte. 25 Jahre Rock mit allem Drum und Dran zeigten ihre Folgen: Er wurde nur 46 Jahre alt.

Schwere Orchestereinsätze zu seinem Gedenken hätte er nicht geschätzt. Nach unserem Interview 1992 sagte er noch, er möge es „nicht so beethovensch. Zu einem lockeren, schlappen Bossanova können sich die Leute doch auch gut bewegen.“ Wird gemacht!