Berlin/hamburg.

Der Weg zum Kinderzimmer ist kurz. Eine Altbauwohnung in Berlin-Friedrichshain: Nur der Flur trennt Rosa Langes Privatraum vom Zimmer ihrer Enkelin Mila (4). Die Großmutter (62) ist immer da, wenn Mila Hilfe braucht, sie bringt das quirlige Mädchen zur Kita, kocht und begleitet sie zum Spielplatz. Jeden Tag. Rosa Lange (Nachname von der Redaktion geändert) lebt mit ihrer Tochter Teresa (27), deren Freund Franjo (28) und der Enkelin in einer Wohnung. Die drei Generationen haben sich bewusst dafür entschieden, unter einem Dach zu wohnen. Sie sind Pioniere eines neuen, alten Lebensmodells.

Es muss nichtdie klassische Familie sein

„Das Mehrgenerationenwohnen greift um sich“, stellt die Stuttgarter Soziologin Christine Hannemann fest, schränkt allerdings ein: „Eher nicht in den klassischen Familien, es entstehen eher Wahlverwandtschaften.“ Sie macht eine gesellschaftliche Entwicklungen aus, die sich durch Interesse an Gemeinschaft und einen Wandel der Lebensstile auszeichne. Jüngere und Ältere fänden sich häufiger als vor zehn Jahren in Wohnprojekten zusammen, die auf gegenseitiger Hilfe basieren. Der Anstoß komme oft von der älteren Generation, die später nicht im Pflegeheim enden wolle. „Es ist die 68er-Generation, die jetzt alt wird“, erläutert die Soziologin. Die habe schon immer offenere Lebensmodelle gepflegt. Und sie mache sich früher Gedanken, wie sie mit 80 einmal leben wolle. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov zeigt ein gespaltenes Bild. Fast die Hälfte (44 Prozent) der rund 2000 Befragten sieht das Zusammenleben in einer Großfamilie positiv. Für elf Prozent ist es schon Alltag, zwei Prozent planen es gerade. Fast ein Drittel würde gern so leben – vor allem im Alter. Doch fast ebenso viele (46 Prozent), können sich dieses Lebensmodell absolut nicht vorstellen.

Die Langes haben für ihr Projekt einen privaten Generationenvertrag geschlossen: Die jungen Eltern arbeiten beide Vollzeit, zahlen die Miete und das Haushaltsgeld. Großmutter Rosa, die von ihrem Mann geschieden ist und keine Lust auf eine neue Partnerschaft hat, kümmert sich um die Enkelin. Wenn sie später einmal Hilfe braucht, wird sie in der Familie bleiben. Den Eltern bietet das Modell viele Freiheiten. Tochter Teresa leitet zwei Modegeschäfte, sie hat den Kopf frei von Kitazeiten und Einkaufszetteln. Abends kann das junge Paar ausgehen, wann immer es will. Oma bleibt gern zu Hause bei Mila. Das Zusammenleben funktioniert so gut, dass Teresa Lange und ihr Freund über ein zweites Kind nachdenken. „Für meine Mutter wäre das okay“, sagt sie schmunzelnd. In ihrem Bekanntenkreis gelte ihr Modell als beispielhaft: „Viele können sich das nicht vorstellen – wieder mit Mama“, sagt sie. Doch nun heirateten viele Freunde und bekämen auch Kinder. „Und jetzt fangen sie an, genauer nachzufragen, wie das bei uns so klappt.“

Die Jungen idealisieren die Familie – und leben anders

„Der Kontakt zwischen den Generationen wird immer besser“, berichtet die Berliner Soziologin Michaela Kreyenfeld. Man streite nicht mehr um Kleidung oder Musikgeschmack, die Einstellung zur heutigen Vielfalt an Lebensstilen werde immer offener. Das bedeute aber nicht, dass deswegen gleich Großfamilien zusammenleben. Ausnahme seien alte Eltern, die für die Pflege zurück in die Familie geholt würden. Doch generell werde die junge Generation weiter zwischen 18 und 20 flügge. „Eine Rückkehr ins Elternhaus ist nicht das typische Muster.“

Auch Peter Wippermann, Trendforscher aus Hamburg-Rotherbaum, kennt Gründe, warum das Modell Großfamilie zwar anerkannt ist, aber selten praktiziert wird: „Es gibt eine Singularisierung der Gesellschaft. Die Generation der 30- bis 35-Jährigen ist eher egozentrisch orientiert, die hält sich alles offen.“ Er bezweifelt auch, dass die 50-plus-Generation wieder mit ihren Kindern zusammenleben will. „Die arbeiten, trennen sich oder versuchen gerade wieder neue Beziehungen.“ Besonders ambivalent seien die 16-Jährigen, sagt Wippermann: „Bei ihnen erlebe ich eine Idealisierung von traditionellen Ehebündnissen. In der Realität sieht es allerdings anders aus.“

Das alte Idealbild einer sich liebenden Familie prägt immer noch das Bewusstsein. Im Alltag verliert es jedoch an Bedeutung. Der neuen Begeisterung für diese Wohnform zum Trotz: Die Zahl der Mehrgenerationenhaushalte ist in den letzten 20 Jahren um 40 Prozent auf 209.000 zurückgegangen.

Und eine weitere aktuelle Yougov-Studie zeigt: Ein Fünftel aller deutschen Mütter und Väter bereut es, jemals Kinder bekommen zu haben. „Wenn ich mich heute noch einmal entscheiden könnte, würde ich keine Kinder mehr bekommen wollen“ – acht Prozent der Befragten unterschrieben diese Aussage „voll und ganz“. Und weitere elf Prozent stimmen ihr „eher“ zu. Die Gründe für die Ablehnung sind vielschichtig. 61 Prozent derer, die das Kinderkriegen bereuen, meinen, sie hätten ohne Nachwuchs beruflich mehr erreichen können. 72 Prozent denken manchmal, dass sie sich für ihre Kinder aufgeopfert haben.

Rosa Lange hätte nach ihrer Pensionierung auch ein anderes Lebensmodell wählen können. Eine Freundin hätte mit Lange gerne eine Wohngemeinschaft eröffnet. „Sie hat gesagt: Zieh zu mir und wir haben Spaß.“ Doch die Familie und die Verantwortung für ihre Enkelin sind für Rosa Lange wichtiger. Die neue Aufgabe „hat mir gutgetan“.