Karl und Hans heißen jetzt Karlson und Hansson, und ich mache „Huh!“. Erkenntnisse einer sehr lehrreichen EM

Wir sind eine internationale Familie. Diese Woche waren wir Island. Wir nennen unsere Söhne jetzt Karlson und Hansson und das Familienoberhaupt Chefinson, auch wenn Chefindottir richtig wäre. Wie nahezu alle Bundesbürger sind wir schon immer große Island-Experten gewesen, finden nur leider gerade die alten Björk-CD’s nicht, was daran liegen mag, dass wir immer welche kaufen wollten, wenn das Feuilleton wieder jubelte, aber dann doch zu Sigur Ros gegriffen haben, weil Schweinegeigenrock immer geht.

Während ich mir einen Becher Skyr gönne, hat Hans eine Art Wikingerhelm aus Plastik aus unserem Karnevalskarton im Keller gefischt, wobei die Hörner Bierdosenhalter sind. Nun steht der Kleine breitbeinig im Flur, klatscht über dem Kopf und macht „Huh!“ Ich muss Publikum auf der Tribüne spielen und auch „Huh!“ machen, immer schneller, plus Trampeln. Als Nachbar möchte ich uns auch nicht haben. Leichte Huh-Müdigkeit. Euphorie ist keine endlose Ressource. Chefinson hat sich die Kopfhörer von Karl dem Großen ausgeliehen und hört eine Achtsamkeitsmelodie, die auf dem Grollen von Geysiren basiert.

Gleichwohl begrüße ich den pädagogischen Wert dieser EM ausdrücklich.

EM-Lehre eins: Auch der breitbeinigste Staatenlenker kann seine Nationalelf nicht in die Endrunde quatschen, was die gefühlte Allmacht der Herren Putin und Erdogan aufs Angenehmste relativiert. Was die Kinder lernen: entschieden wird aufm Platz.

EM-Lehre zwei: Team schlägt Star. Was die Evolutionsbiologie schon lange weiß, bildet sich in Frankreich pädagogisch wertvoll ab. Elf Freunde, die Pass spielen, funktionieren besser als ein Diva-zen­triertes Mannschaftsmodell oder können sich hinterher wenigstens gemeinsam trösten. Gilt für Schulklassen ebenso wie für Familien.

EM-Lehre drei: Es gibt keine Kleinen, und Große sind nicht ewig Riesen. Wer rackert, ist dem Selbstgewissen oftmals überlegen. Und wenn der Selbstgewisse rackert, kann er den unvermeidlichen Abstieg noch etwas herauszögern wie Cristiano Ronaldo.

EM-Regel vier: Wer sich für unverletzlich hält, weil er den Fußball mal erfunden hat, wird mit Liebesentzug bestraft.

Früher wollten wir oft Briten sein, entweder Sid Vicious oder James Bond oder Neil Tennant oder Lady Di oder Gary Linneker. Hans würde sofort auf ein Internat gehen, gäbe es wirklich eines wie Hogwarts. Und Chefinson wünscht sich einen Hut von Queen-Format. Unser altes England, Heimat von Stil, Gelassenheit und wohltuender Exzentrik.

Und jetzt? Sind wir lieber Island und hängen Strickpullover mit Zopfmuster über den Balkon. Isländische Fahnen sind ausverkauft. Hans will unbedingt ein Pony, das praktischerweise nicht größer ist als ein Hund und geschickt genug, die Treppen in den zweiten Stock zu erklimmen. Auf dem Balkon mit den Pullovern würde es sich bestimmt heimisch fühlen. Karl wiederum hat sich die Tätowierungen der Geysir-Kicker sehr genau angeguckt. Fazit: Die Kriegsbemalung auf einem isländischen Leib sieht deutlich furchterregender aus als Beckhams scheinbar aufgebügelte Bauernmalereien.

Und EM-Lehre fünf: Fußball ist wie Europa, nur viel besser organisiert. Höchst verschiedene Menschen kommen ganz gut miteinander aus, wenn sie sich in ein Team einfügen, das ein gemeinsam akzeptiertes Ziel verfolgt. Ein Minimum an Fleiß und Einordnung ist unvermeidlich, Charakter-, Leistungs- und Talentunterschiede sind willkommen, solange die Chancen fair verteilt sind. Ungleichheit ertragen die Menschen, Ungerechtigkeit nicht. Da unterscheiden sich Nationalelf und Nation nicht groß voneinander. Bekommen diese bunten Teams ein gemeinsames Regelwerk und halbwegs kompetente Schiedsrichter, dann lässt sich ein Mit­ein­ander halbwegs auskömmlich organisieren. Jeder gewinnt mal, auch Verlierern wird Respekt spendiert.

Wenn Hans also das nächste Mal fragt, warum sich in diesem Europa immer alle streiten, dann lautet die Antwort: Weil es in Brüssel zu wenig allseits akzeptierte Regeln und Ziele gibt.