Oldenburg.

Die Mordserie des ehemaligen Krankenpflegers Niels H. ist noch umfassender als bisher bekannt. Es könnte sich um das größte Verbrechen eines Einzeltäters in der Nachkriegszeit handeln. Der Krankenpfleger, der bereits wegen dreifachen Mordes verurteilt worden ist, soll noch für mindestens weitere 33 Todesfälle verantwortlich sein. Das haben die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft in Oldenburg ergeben. Sie sind noch längst nicht beendet. Insgesamt könnte es um 170, möglicherweise auch um mehr als 200 Fälle gehen.

Niels H. hat nicht nur im Klinikum Delmenhorst getötet, sondern soll dies zuvor auch im Klinikum der Nachbarstadt Oldenburg getan haben. Dort beginnt die Arbeit der Polizei nun erst. „Das Grauen hört nicht auf“, sagte der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme gestern. „Es spricht vieles dafür, dass die Morde in Delmenhorst hätten verhindert werden können“, sagte Kühme, wenn die richtigen Schlüsse gezogen worden wären. Denn: Es gebe Indizien dafür, dass man im Klinikum Oldenburg schon 2001 von Auffälligkeiten wie einer gestiegenen Zahl an Todesfällen gewusst habe. „Aber die Behörden wurden darüber nicht informiert“, sagte Kühme. Deswegen werde derzeit auch wegen des Verdachts des Totschlags durch Unterlassen gegen Klinikverantwortliche ermittelt.

Der Fall Niels H. wird zweifellos in die deutsche Rechtsgeschichte eingehen. Zu monströs ist die Zahl der Opfer, zu lange konnte H. einfach weiterarbeiten, zu kompliziert sind nun, ein gutes Jahrzehnt nach den Taten, die Ermittlungen.

H., heute 39 Jahre alt, hatte nach einer Ausbildung zum Krankenpfleger ab 1999 zunächst in Oldenburg gearbeitet. Auf der herzchirurgischen Intensivstation tat er sich bei einigen Wiederbelebungen hervor und wurde dafür gelobt. Das setzte ein verhängnisvolles Verhaltensmuster in Gang. Immer wieder spritzte H., so hielt es das Landgericht Oldenburg im vergangenen Jahr in seinem Urteil fest, Krankenhauspatienten das hoch dosierte und nur noch sehr selten eingesetzte Herzmedikament Gilurytmal. Das führte innerhalb weniger Minuten zu schweren gesundheitlichen Komplikationen. H. versuchte daraufhin, die Patienten zu reanimieren. Mal gelang es. Dann wurde der Krankenpfleger gelobt. Mal misslang es. Dann starb der Patient.

Schon in Oldenburg war Ärzten aufgefallen, dass sich H. bei Reanimationen unangenehm in den Vordergrund spielte. Auf Druck des Krankenhauses kündigte er Ende 2002. 2003 machte er auf der Intensivstation des Klinikums Delmenhorst weiter. Rasch verdoppelte sich dort die Zahl der Sterbefälle. Seine erste Tat soll er schon eine Woche nach Dienstbeginn verübt haben. Im Juni 2005 wurde H. von einer Krankenschwester auf frischer Tat ertappt. 2006 wurde er wegen versuchten Mordes verurteilt. Das Urteil wurde aber erst 2008 rechtskräftig.

Ermittler werden Hunderte Krankenakten auswerten

Angehörige von Verstorbenen hakten bei den Behörden nach. War H. für weitere Todesfälle verantwortlich? 2014 nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf. Leichen wurden exhumiert und obduziert. Im Februar 2015 endete der neue Prozess gegen H. mit einer lebenslangen Haftstrafe wegen dreifachen Mordes. Aber schon damals wurde vermutet, dass das „grauenhafte Wirken des Niels H.“ (Polizeipräsident Kühme) damit noch nicht annähernd ausermittelt war. Die Soko „Kardio“ machte weiter. Kühme formulierte den Arbeitsauftrag so: „Klärt auf, was noch aufzuklären ist.“

Zunächst konzentrierten sich die Polizisten dabei auf Todesfälle im Klinikum Delmenhorst. 99 Leichen wurden exhumiert und obduziert – Menschen, die starben, während H. Dienst auf der Intensivstation hatte. Bei 27 Verstorbenen wurde der Gilurytmal-Wirkstoff Ajmalin gefunden. „Wir haben ein sehr großes Dunkelfeld“, sagte der Soko-Chef Arne Schmid.

Im Klinikum Oldenburg wurden bislang vier Leichen exhumiert, in zwei Fällen war Ajmalin nachweisbar. Bei vier weiteren Todesfällen besteht der Verdacht, dass H. eine Kaliumvergiftung herbeigeführt hat. „Wir werden uns jetzt mehrere hundert Krankenakten vornehmen“, sagte Schmid. Auch Exhumierungen würden beantragt.

Am Ende der Pressekonferenz voller grausiger Details sagt ein Journalist, er habe Schwierigkeiten zu erfassen, wie viele Menschen H. getötet habe. „Wir auch“, sagt leise Thomas Sander. Er leitet die Ermittlungen.