Britische Putzfrauen befürchten Mehrarbeit wegen der EU. Einer von vielen fatalen Irrtümern über Europa

In dem ARD-Feature „Albtraum Brexit“ kam vorige Woche eine britische Putzfrau zu Wort, die vehement für den EU-Austritt ist und Brüssel für eine Ansammlung von Irren hält. „Die wollen die Watts und Volts ändern“, sagte sie. „Was für mich als Reinigungskraft richtig schlecht ist. Denn ich würde endlos saugen müssen.“

Das hat mich überrascht. Was könnte sie gemeint haben?

Wahrscheinlich dies: Seit Jahren zwingt die EU Hersteller, neue Standards für Elektrogeräte umzusetzen. So musste schon die 100-Watt-Glühbirne vom Markt verschwinden, und aus Energiespargründen dürfen in der EU nur noch Staubsauger mit bis zu 1600 Watt Leistung verkauft werden. Unsere tapfere Reinigungskraft fürchtet offenbar, dass die EU sie um ihren britischen „Hetty“-Hochleistungsstaubsauger bringt. Das Beispiel sagt einiges über die emotionsgeladene Brexit-Debatte im Vereinigten Königreich. Kaum verstandene einzelne EU-Beschlüsse werden derart mit Bedeutung aufgeladen, dass sich daraus mit etwas Fantasie eine antibritische Schikane basteln lässt, die sich das ehemalige Empire – „Britannia rules the waves!“ – keinesfalls gefallen lassen kann.

Nur: Oft zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass gar nicht die EU, sondern die Regierung in London jene Missstände verursacht hat, die den kleinen Briten auf der Straße wütend machen. Beispiel: die Fischer im südwestenglischen Cornwall. Milliarden Euro sind aus Brüssel nach Cornwall geflossen, dennoch ist die Flotte geschrumpft, gefangen wird immer weniger, die Fangquoten seien ungerecht verteilt, sagen die Fischer. Dabei war es doch die eigene Regierung, die die Fangquoten meistbietend an Fremdfirmen verkauft hat!

Sollte es morgen zu einem Brexit kommen, dann wird Europa zum Prügelknaben für die katastrophale Sozialpolitik der britischen Regierung. Der Niedergang der öffentlichen Dienste, die Explosion der Mietpreise, das Abhängen ganzer Regionen vom wirtschaftlichen Wachstum – daran ist nun keineswegs die EU schuld, im Gegenteil. Ohne EU ginge es vielen Briten noch viel schlechter. Solche Fakten werden von den rechtspopulistischen Brexit-Betreibern, allen voran der UK Independence Party (Ukip), konsequent verschleiert. Umso erstaunlicher ist, dass inzwischen auch namhafte Vertreter der britischen Linken („Leftists“) einen „Lexit“ fordern. Ihre Argumente sollte man sich genauer anschauen.

Zu Zeiten Margaret Thatchers habe die demoralisierte britische Linke noch geglaubt, eine progressive Gesetzgebung auf der Insel sei künftig nur via Brüssel möglich, erklärt der Bestsellerautor Owen Jones. Bekommen habe man aber mit dem „freien Markt“ auch mehr Deregulierung, etwa die von der EU forcierte Privatisierung der Royal Mail, ehemals staatseigen wie die Deutsche Post, und die des Eisenbahnverkehrs. Gleichwohl seien jetzt „noch die letzten guten EU-Reste“ in Gefahr, vor allem der Kündigungsschutz, befürchtet Jones. Zweiter harscher Kritikpunkt ist, wie die EU Griechenland behandelt hat. Deutschland habe sich dabei als „verhängnisvoller Hegemon“ entpuppt. Drittens ­kreiden die Linken der EU die Geheimverhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP an, das der Euro-Zone eine weitere „Talfahrt in Umwelt-Standards und im Verbraucherschutz“ bescheren werde.

Strukturprogramme, die bei den Empfängern nicht ankommen, undurchsichtige „Harmonisierungs“- Richtlinien, Markt-Liberalisierungen, die Schuldenpolitik gegenüber Griechenland, TTIP: Kommt uns bekannt vor, oder? Das sind ernst zu nehmende Kritikpunkte, die auch viele Deutsche unterschreiben würden.

Wie immer die Briten morgen entscheiden: Es kann uns nicht egal sein. Ein Lernprozess wird unvermeidbar – für uns alle. Die Europäische Union hat ein Transparenz- und ein Demokratiedefizit, Deutschland muss sich selbstkritisch mit seiner gusseisernen Sparpolitik, die Briten mit ihrem Gefeilsche um Sonderrabatte auseinandersetzen. Sonst wird das nichts mehr mit einem geeinten Europa.