Mit seinem Verein „Hilfe für Tschernobyl-Kinder e.V.“ organisiert Christoph Rödiger jeden Sommer fünf Wochen Erholungsurlaub für strahlen-geschädigte Kinder aus der Ukraine – trotz seiner eigenen Behinderung

Er kann nicht zupacken. Unmöglich, einen Schlüssel zu drehen, eine Tür mit den Händen öffnen. Christoph Rödiger kann weder ein Kind auf die Arme nehmen, noch mit seinen Händen die Tränen fortwischen. Er kann nicht tragen, auffangen, festhalten. Seit einem Unfall sind beide Arme gefühllos und schlapp.

Und doch, packt er zu. Knackt Probleme und öffnet Türen zu neuen Wegen. Trägt Kinder auf den Armen und wischt Tränen fort. Mit dem, was er tut, fängt er kleine Seelen auf und gibt ihnen Halt. Auch wenn die Arme schwach sind, die Finger steif, sein Wille zu helfen ist stark. Er weiß, dass er auch mit Händen, die nicht greifen können, so viel geben kann.

Rödiger, 66 Jahre alt, hat einen Verein gegründet. Das war im Jahr 2000. „Hilfe für Tschernobyl-Kinder e.V.“ heißt er. Seitdem kümmert sich der pensionierte Lehrer um die Kinder aus den strahlenverseuchten Gebieten rund um das russische Kernkraftwerk Tschernobyl. Sommer für Sommer holt er 22 von ihnen nach Deutschland, quartiert sie im Haus der evangelischen Kirche in Scharmbeck ein und ermöglicht ihnen die vielleicht wichtigsten fünf Wochen ihres Lebens. Unbeschwerte Zeit, einen Erholungsurlaub sozusagen, mit guter Ernährung, aufregenden Unternehmungen und Menschen, die ihnen gut tun.

Am 15. Juli ist es wieder soweit. Dann wird der schmächtige Mann mit den grauen Haaren und den wachen Augen wieder am Osterkamp stehen und den großen Bus mit den kleinen Menschen in Empfang nehmen. Er könnte jubeln, wenn er daran denkt. Doch nicht mal eine geballte Faust ist drin.

Als Lehrer ist er Vorbild und für viele ein späterer Freund

Christoph Rödiger kann seine Arme kaum bewegen. Die Hände sind immer eiskalt. Wenn er sich die Finger verbrennt, spürt er nichts. Die Nervenbahnen sind komplett zerstört. Seit dem Unfall vor 44 Jahren. Rödiger ist damals 22 Jahre alt. Ein junger Mann mit großen Plänen. Er will Chirurg werden, arbeitet am Lüneburger Krankenhaus als Aushilfe, während er auf seinen Studienplatz wartet.

Als sein Hausarzt bei ihm unter den Achselhöhlen einen Knoten ertastet, schickt er ihn ins AK St. Georg. Der Knoten soll vorsorglich bestrahlt werden. Was keiner der Ärzte und Schwestern weiß: Das Bestrahlungsgerät ist defekt. Eine Filterplatte ist herausgefallen. Rödiger wird mit der viereinhalbfachen Dosis bestrahlt. Neben ihm sind 27 andere Patienten von dem Unfall betroffen. Er ist der einzige, der bis heute überlebt hat.

Die ungefilterten Strahlen zerstören das Gewebe unter den Achseln. Sie zerstören die Haut und schließlich die Nerven. Der junge Mann ahnt nicht, dass sich unter seinen Armen ein Strahlenkrebs gebildet hat. Die Ärzte schweigen. Als er ein Jahr später bei einem Klavierkonzert plötzlich kein Gefühl mehr in den Fingern hat, geht er erneut ins Krankenhaus. Die Ärzte empfangen ihn mit den Worten: „Wir haben sie längst erwartet.“

Seitdem ist nichts mehr wie es vorher war. Für Christoph Rödiger beginnt eine Odyssee durch Krankenhäuser und Therapieeinrichtungen. Da das zerstörte Gewebe nicht heilt, sondern verklumpt, muss es entfernt werden. Doch in Deutschland gibt es keinen Neurologen, der sich an diese komplizierte Operation heranwagt. Schließlich findet er einen Chirurgen in Wien, Prof. Milesi. Ihm gelingt es, das Gewebe zu entfernen. Doch die Nerven kann auch er nicht retten. Christoph Rödiger hätte verzweifeln können. Er hätte sein Leben damit verbringen können, Schuldzuweisungen zu machen. Stattdessen sagt er sich: „Ich lebe. Und ich will mein Leben nutzen.“ Seine Pläne für die Chirurgie muss er aufgeben. Stattdessen beschließt er, Lehramt zu studieren mit Musik als Hauptfach. Als Instrument hat er nur seine Stimme. Die aber ist so gut, dass er damit einen Studienplatz ergattert.

Er singt Kirchenkonzerte, Weihnachtsoratorien und als Solist die Matthäus-Passion. Und er zeigt seinen Zöglingen am Gymnasium Winsen, dass, wer im Geiste stark und wach ist, vieles im Leben anpacken und erreichen kann, auch wenn die Hände nicht mitspielen. Seine Schüler schätzen ihn. Aus ehemaligen Lehrer-Schüler-Verhältnissen sind lebenslange Freundschaften geworden. Selbst jetzt, im Ruhestand, sind es Schüler, die ihn auf seinen Reisen rund um die Welt begleiten.

Er ist gerade 56 Jahre alt, als die Ärzte bei ihm Speiseröhrenkrebs diagnostizieren. Die komplizierte Operation gelingt, doch noch im Wachkoma fällt Rödiger aus dem Bett und bricht sich die Arme. Seitdem kann er sie gar nicht mehr beugen. Er ist gezwungen, in den Ruhestand zu gehen. „Ich konnte als Lehrer ja nicht einmal mehr meine eigene Tasche tragen“, sagt er.

Doch Rödiger ist einer, der nicht aufgibt. Der sein Leben schon immer so gestaltet hat, dass es spannend bleibt. Als er 2008 aus dem Schuldienst ausscheidet, nimmt er sich vor, sich noch mehr in seinen Verein „Hilfe für Tschernobyl-Kinder“, den er 2000 gemeinsam mit seiner Schwester gegründet hat, reinzuknien. Von den Spendengeldern über die Organisation der Busfahrt bis zur Unterbringung der Kinder, ihrer Versorgung und dem Programm in Deutschland liegt alles in seinen Händen.

16.000 Euro an Spenden sammelt Rödiger pro Jahr

Die Kinder kommen aus der Stadt Bila Zerkwa in der Ukraine, 80 Kilometer südlich von Kiew. „Als der Reaktor des Atomkraftwerkes Tschernobyl 1986 explodierte, ging über dieser Stadt die erste Strahlenwolke runter“, sagt er. „Die Gegend ist auf Jahrhunderte verseucht. Die Kinder dürfen nicht in den Flüssen und Seen baden, kein Leitungswasser trinken, keine Milch von Kühen aus der Region zu sich nehmen.“

Mit Hilfe der Organisation „Revival of Tschernobyl“, die vor Ort aktiv ist, werden die Kinder ausgesucht. Sie sind zwischen acht und zwölf Jahre alt, oft Halb- oder Vollwaisen oder aus Familien mit wenig Geld. Alle sind immungeschwächt und angeschlagen. „Wenn sie aus dem Bus aussteigen, sehen sie aus wie lauter kleine graue Mäuse“, sagt Rödiger. Und dann passiert in der Regel das, was ihm die Kraft gibt, jedes Jahr aufs Neue 16.000 Euro an Spendengeldern zu sammeln und ein ganzes Dorf für das Projekt zu begeistern: Ganz schnell finden die Kinder ihre Unbeschwertheit wieder. „Sie lernen bei uns das Lachen neu“, sagt Christoph Rödiger. Am Wochenende vor der Ankunft treffen sich die Scharmbecker, beziehen die Betten, legen Handtuch, Zahnbürste, Duschgel, Süßigkeit und ein Kuscheltier auf jedes Bett. Wenn die Kinder dann da sind, spendet der Bauer frische Milch, der Bäcker verschenkt Brötchen, das Elektrogeschäft stellt Kühlschränke auf und Privatleute übernehmen die Fahrdienste.

Vier Wochen dauert es, bis sich das Blut der Kinder dank guter Ernährung, viel Bewegung und sauberer Luft komplett regeneriert hat. Wenn die Kinder nach fünf Wochen in ihre Heimat zurückkehren, sind sie wie rundum erneuert. Körperlich. Und seelisch. Denn das, was in Scharmbeck mit ihnen passiert, die Erfahrungen, die sie in Deutschland machen und die Menschen, die sie in diesen so wertvollen Wochen begleiten, prägen fürs Leben. So, als wären sie durch ihren Aufenthalt in Deutschland, noch einmal geboren. Im vergangenen Jahr ist Christoph Rödiger in die Ukraine gereist, um die Kinder zu treffen, die vor zehn, zwölf, 14 Jahren in Deutschland waren.

Was er dort erlebte, hat ihn überwältigt. Nicht nur, dass alle der heute Erwachsenen gesund sind. Sie haben darüber hinaus alle fest vor, etwas aus ihrem Leben zu machen, studieren Agrarwissenschaften in Finnland oder sammeln Erfahrungen als IT-Experte in Indien.

Sie haben Visionen und Perspektiven, wollen im Ausland lernen und in ihre Heimat zurückkommen. Weil sie wissen, dass sie mit ihren Erfahrungen dort am meisten gebraucht werden.

Die Zeit in Deutschland prägt die Kinder für ihr Leben

„Ihr habt uns in Scharmbeck ein völlig neues Leben geschenkt“, hat einer der Ehemaligen beim Treffen im vergangenen Jahr gesagt. Und ein anderer: „Wir wissen, dass Deutschland die Mitte Europas ist und Europa die Mitte der Welt. Wir waren in Scharmbeck – in der Mitte der Welt.“ Besonders berührt aber hat Rödiger die Aussage einer jungen Dame, die heute 20 ist.

Sie war im Jahr 2006 eines der Tschernobyl-Kinder, die mit Hilfe des Vereins nach Deutschland fahren durften. „Das Kuscheltier von damals habe ich heute noch“, sagte sie. „Es erinnert mich an die fünf schönsten Wochen meines Lebens.“ Eine Aussage, auf die Christoph Rödiger sehr stolz sein darf.