Von den Hooligan-Krawallen bis zu Erdogans Hetzreden: Wie blinde Wut in unseren Gesellschaften um sich greift.

Ich hätte heute gern über die EM geschrieben. Etwa darüber, dass sich Olli Kahn (EM-Experte) und Shah Rukh Khan („Bollywood“-Star) leider so gar nicht ähnlich sehen. Oder dass ich mir mit Jérôm­e Boateng das Abendblatt-Abo teilen würde. Oder warum in den Spielszenen immer diese komische Kaffeekanne auftaucht, die aussieht, als hätte eine rüstige bulgarische Oma sie mit dem Mund bemalt. Ach so, der Pokal ... Aber jetzt haben wir alle die schrecklichen Krawallszenen in Marseille vor Augen. Was treibt Menschen zu so entfesselter Gewalt und einem derart blindwütigen Feindbild, dass sie mit Flaschen, Baseballschlägern oder Stühlen auf „Gegner“ eindreschen, die sie nie zuvor gesehen haben? Zugleich werden türkischstämmige Bundestagsabgeordnete nach der Armenien-Resolution von türkischen Regierungsvertretern wüst beschimpft und von deren Anhängern mit Morddrohungen überzogen. Auch dahinter steht ein blindwütiges Feindbild, zum Glück hat es noch nicht zu Gewalt geführt. Ist Pogromstimmung wieder salonfähig geworden? Was sind das für Stellvertreterkriege?

Bisher haben mehr als 20 Nationen den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren anerkannt, unter anderem die USA, Russland, Frankreich, Schweden, die Niederlande, Argentinien, das EU-Parlament. Und Deutschland, das sich mit dem Verdrängen ja auskennt, aber gelernt hat, dass Verdrängen nicht hilft. Bei den Verhaftungswellen und Deportationen der Armenier wurden 1915 bis 1917 zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Menschen getötet. Auf Resolutionen, die von Genozid sprechen, reagierten türkische Regierungsvertreter immer schon reflexhaft empört; nach offizieller Lesart hatte die Regierung in der Gründungsphase der türkischen Nation lediglich auf armenische Aufstände reagiert. Aber jetzt haben die Reaktionen jedes Maß verloren. Und sie werden von ganz oben intoniert: Präsident Erdogan fordert nicht nur „Bluttests“. Er fordert Gehorsam, auch in Deutschland.

Dabei hatte es schon einmal so ausgesehen, als weiche das starre türkische Tabu in der Armenien-Frage langsam auf. Im April 2010 befasste sich ein Symposium mit türkischen und armenischen Teilnehmern in Ankara zum ersten Mal mit der Geschichte des Genozids und seinen Wurzeln in der „Türkisierung“ der jungen Türkei. In Istanbul erinnerten erste Kundgebungen an das Geschehen. Ein türkischer Anwalt beantragte ein posthumes Strafverfahren wegen Völkermords gegen Talaat Pascha, den „Architekten“ des Vernichtungsplans.

Wichtigster Wegbereiter dieses Umdenkens war der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink, der sich für eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte einsetzte: „Die Armenier in der Türkei leiden unter einem tiefen Trauma. Und die Türken leben in einer Paranoia. Beides ist nicht gesund“, schrieb er. 2007 wurde er von einem Nationalisten in Istanbul ermordet. Rund 100.000 Menschen kamen zu seiner Beerdigung, viele mit Transparenten „Wir sind alle Hrant Dink“ und „Wir sind alle Armenier“. 2008 unterschrieben knapp 30.000 Menschen in der Türkei eine Internet-Petition, die das armenische Volk um Verzeihung bat.

Man muss sich das in Erinnerung rufen, um den jetzigen Rückfall zu ermessen. Erdogan trat 2003 als Reformer an, er liberalisierte das Strafrecht, handelte einen Waffenstillstand mit der PKK aus. Aber er besetzte den Staats­apparat durchgehend mit Getreuen, und spätestens seit den Protesten im Gezi-Park 2013 überzieht er Kritiker im In- und Ausland mit Schmähreden, Terrorismus-Vorwürfen und Strafanzeigen. Mit Vokabeln aus dem Wörterbuch des Nationalismus wie „Blut“, „Ehre“, „Vaterlandsverräter“ stempelt er jeden zum Feind, der angeblich „untürkisch“ handelt und dem Cäsarenwahn nicht huldigen will. Auch wenn dabei politische Beziehungen zu Bruch gehen.

Das ist derselbe Mechanismus wie bei den Krawallen in Marseille. Es geht um pseudokriegerische Gefühle, um nationalistisch aufgeladene Feindbilder, auch wenn der Fußball – ja gerade ein friedliches Kräftemessen – dabei auf der Strecke bleibt. Eine solche Klimavergiftung ist brandgefährlich.