Essen.

Dass die Pubertät ein Ausnahmezustand ist, darüber sind sich alle einig. Aber während Mädchen wissen, dass Frauenärzte ihnen bei Fragen zu körperlichen Veränderungen helfen können, suchen sich Jungen ihre Antworten oft im Internet. Und werden dadurch mangels medizinischen Ratgebern in ihrem Umfeld oder Ansprechpartnern in ihrer Familie oft irritiert bis desorientiert. Aus dieser Erfahrung ziehen Urologen ihre Schlüsse und bieten jetzt Jungensprechstunden an.

Der Körper verändert sich – man wächst, Haare sprießen an Stellen, die bisher glatt wie ein Kinderpopo waren. Muskeln bilden sich, Hoden und Penis werden größer. Das dauert meist, bis Jungs 18 oder 20 Jahre alt sind. „Aber ab dem 14. Lebensjahr haben sie in der Regel niemanden mehr, dem sie dazu Fragen stellen können“, sagt Dr. Wolfgang Bühmann. Der erfahrene Urologe, der auf der Nordseeinsel Sylt praktiziert und seit Jahren dem Dr.-Sommer-Team der Jugendzeitschrift „Bravo“ beratend zur Seite steht, engagiert sich für einen besseren Dialog mit Jungen. Er überzeugt seine Kollegen derzeit von der Notwendigkeit von Sprechstunden für Jungen. „Zum Kinderarzt möchten sie nicht mehr gehen, weil er sie schon in den Windeln gesehen hat. Der Hausarzt ist noch keine Vertrauensperson, weil er die Eltern oder Großeltern berät. Die Lücke kann der Urologe füllen“, davon ist Bühmann überzeugt.

Homosexuelle Phasen könnenHeranwachsende verunsichern

Auch Dr. Alexander Hinn will in seiner urologischen Gemeinschaftspraxis in Essen solche Sprechstunden zu festen Zeiten anbieten. „So können wir den Jungen die Scham nehmen, ihre Probleme anzusprechen – sie können auch mit Freunden kommen“, lautet Hinns Plan. Als Aufklärungsexperte weiß Wolfgang Bühmann, was Jungen umtreibt: „Es sind viele Fragen zur Entwicklung von Sexualität – zum Beispiel geht es darum, dass es im Leben von heranwachsenden Männern auch homosexuelle Phasen gibt, in denen die oft unterbewusste Entscheidung der persönlichen Ausprägung fällt. Das ist ganz normal, aber verunsichernd.“

Ein zentrales Thema, das nicht nur Jungen nach Erfahrung von Bühmann völlig überbewerten, ist die Penislänge: „Die Mythen, die sich darum ranken, können wir nicht völlig entzaubern. Aber darüber aufzuklären, dass der Durchschnittspenis im Schnitt neun Zentimeter beziehungsweise im erigierten Zustand 13,1 Zentimeter lang ist, hilft den Jungen, Ängste durch Kenntnis von Fakten abzubauen. Das erleichtert viele Männer – und entspannt werden sie durch den Hinweis, dass sie Frauen auch ganz ohne männliches Geschlechtsorgan Lust bereiten können, weil der erotisch sensible Bereich der Scheide lediglich die ersten vier Zentimeter umfasst.“

Da viele Jungs solche Erklärungen nicht bekommen, plagen sie sich laut Bühmann mit Ängsten, ziehen sich zurück und trauen sich nicht, Mädchen anzusprechen. „Die Folge sind Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen“, erklärt der Experte.

Söhne sehen Väter nicht als Ansprechpartner bei Aufklärung

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat in einer Analyse festgestellt, dass Jungen ihre Väter in den seltensten Fällen als Ansprechpartner in Sachen Sexualität und Aufklärung sehen (acht Prozent fragten ihn) – weit eher die Mutter (41 Prozent) oder einen Arzt (32 Prozent). Urologe Bühmann hofft ebenso wie sein Kollege Alexander Hinn aus Essen, dass die Eltern ihre Söhne künftig wie selbstverständlich zum Urologen schicken.

„Er steht im Grunde immer schon für solche Fragen zur Verfügung – sollte in Zukunft aber stärker wahrgenommen werden, ähnlich wie die Mädchen ganz selbstverständlich ab der ersten Regelblutung zum Gynäkologen gehen“, erklärt Bühmann. Wird das Konzept der Jungensprechstunde angenommen, könnten bedrückende Beratungen über lebensbegrenzende oder -verschlechternde Erkrankungen künftig seltener werden – das erhoffen sich jedenfalls der Berufsverband der Deutschen Urologen (BDU) und die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) als Träger des Konzeptes. Wolfgang Bühmann, der auch als Sprecher des BDU auftritt, dazu:

„Die heutigen 50-Jährigen, die es früher ganz normal fanden zu rauchen, zu trinken und nicht zur Vorsorge zu gehen, können wir nicht mehr ändern. Aber wir können den Jungen mit auf den Weg geben, dass sie mit fortschreitendem Alter etwas gegen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Krebs tun, ihre Gesundheit also bis zu einem gewissen Grad steuern können.“