Oder war es Wm Shakespe? Oder vielleicht doch William Shakespeare? Über den größten Dichter aller Zeiten, der sich einfach nicht finden lässt

Es ist schon ein Treppenwitz der Kulturgeschichte, wenn ein Künstler noch nach 400 Jahren durch seine Werke auf Bühnen, in Filmen, Lyrik-Lesungen, außerdem in Dutzenden Redewendungen und Wortschöpfungen lebendig ist – und gleichzeitig als historische Person fast unauffindbar bleibt.

Seit dem 19. Jahrhundert ernährt die Suche nach William Shakespeare ganze Legionen von Wissenschaftlern und Hobbyforschern. Aber immer noch ist die Liste der verbürgten Fakten über ihn raspelkurz im Vergleich zum geballten Nichtwissen. In unserer Doku-verliebten Zeit wollen wir möglichst alles über Prominente erfahren: ihr Aussehen, ihre Häuser, ihre Schulbildung, eheliche/uneheliche Kinder, Vermögen, politische Meinung, ihre kleinen hässlichen Geheimnisse. Aber Shake­speares Leben (1564–1616) bleibt bis auf ein paar dürre Fakten verborgen. Oder, wie es Mark Twain ausdrückte: Shakespeare und der Teufel sind „die bekanntesten Unbekannten, die auf dem Planeten je geatmet haben“.

Es fängt schon mit dem Aussehen an. Das sogenannte „Chandos-Porträt“, das heute als bekanntestes Shake­speare-Bildnis verbreitet wird, zeigt einen dunkelhaarigen Mann mit Ohrring. Ob es wirklich Shakespeare war, ist völlig offen. Dagegen ist das „Sanders-Porträt“, das 1603 zu seinen Lebzeiten entstand und einer Nachbarsfamilie in Stratford-on-Avon gehörte, bis heute fast unbekannt. Laut einer Inschrift auf der Rückseite ist das „Shakespere“.

Verschrieben? Das ist noch gar nichts gegen Shakespeares eigenen Kuddelmuddel. Obwohl er in seinen Werken fast eine Million Wörter hinterließ, sind nur 14 aus seiner eigenen Hand erhalten – „by me“ in seinem Testament und sechs Unterschriften, jede anders: Willm Shaksp, William Shakespe, Wm Shakspe, William Shakspere, Willm Shakespere und William Shakspeare. Der kreative Umgang mit Namen war normal in damaliger Zeit (Goethe unterschrieb 200 Jahre später auch mal mit Göthe), aber es macht die Suche nach Shak(e)sp(e)(a)re in Quellen kompliziert.

Nur jahrzehntelangem Stöbern einzelner Forscher in Grund-, Steuer-, Schuldbüchern und anderen offiziellen Dokumenten verdanken wir ein paar Anhaltspunkte über den mutmaßlichen Shakespeare. Zum Beispiel, dass ihm 1582 eine Heirat mit Anne Whateley genehmigt wurde und er am nächsten Tag Anne Hathaway ehelichte, dass er 1587 ohne Familie nach London ging, dort 1592/93 als Schauspieler erwähnt wurde, 1594 vor Königin Elizabeth spielte. 1610/11 kehrte er nach Stratford zu Frau und Kindern zurück, betätigte sich als Geldverleiher, im Immobiliengeschäft und besaß einen Bauernhof, kaufte aber 1613 schon wieder ein Torhaus in London. 1616 machte er ein Testament und starb am 3. Mai. Sein Tod erregte kein öffentliches Aufsehen. Punkt.

Sie sehen schon: Nichts davon erklärt diesen grandiosen künstlerischen Output von 38 Dramen und Versdichtungen und 154 Sonetten. Filme wie „Anonymous“ oder „Shakespeare in Love“ folgen vagen Urheberschaftsalternativen oder romantischen ­Annahmen. Skeptiker halten „Shake­speare“ nur für einen Platzhalter des wahren Urhebers – Christopher Marlowe, Francis Bacon, Edward de Vere. Dennoch benutzen wir heute dank der Übersetzungen von Schlegel, Tieck und Wieland lauter Shakespeare-Wendungen im Alltag, etwa „Gut gebrüllt, Löwe!“, „Zahn der Zeit“, „Etwas ist faul im Staate Dänemark“ und „Der Rest ist Schweigen“. Liebeswut, Schafsgesicht, Milchmädchen – alles Wortschöpfungen von Shakespeare.

Aber woher stammte das enorme Wissen, das in seinen Werken steckt? Woher wusste ein Londoner Schauspieler so viel über Anatomie, Justiz, höfisches Leben, Seefahrt und Gartenbau? Woher hatte er die präzisen Ortsangaben in Verona, Padua, Mailand oder Venedig in seinen Stücken? Lässt sich das am Schreibtisch ausdenken? Wie kam der Unternehmer in Stratford an so gute Kenntnisse in Latein, Französisch und Italienisch? Es gibt keinerlei Hinweise, dass er studiert oder England je verlassen hat.

Herrgott, warum konnte der Mann nicht wenigstens Tagebuch führen? „Heute wieder an Othello gefeilt. Bin tierisch genervt“ – das klänge nachvollziehbar und menschlich. Aber nichts davon. „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.“ Shakespeare will einfach nicht gefunden werden.