Es gibt sie, die Kleinen, die stänkern, schubsen und prügeln. Sollten Eltern ihren Nachwuchs gegen diese Kinder verteidigen?

Kürzlich kam die Fünfjährige mit einem bunten Gesicht nach Hause. Von über der Schläfe bis zur Mitte der Wange schillerte es rot und blau. Zuerst dachte ich, sie hätten Kinderschminken gespielt, aber stattdessen war es Karl, der die Tochter gegen die Garderobe geschubst hatte.

Karl! Mal wieder. Wer glaubt, alle Kinder seien auf ihre Weise irgendwie niedlich, kennt Karl nicht. Ich glaube, es gibt in jeder Kita ein Kind, bei dem man sich gut vorstellen kann, dass es vielleicht auch in einer anderen Kita bestens aufgehoben wäre. Irgendwo sehr weit weg. Am anderen Ende der Stadt, oder, noch besser, in Timbuktu vielleicht. Oder in Madagaskar, dort, wo der Pfeffer wächst.

Diese Kinder sind der Elternschreck. Sie schlagen Milchzähne aus, benutzen Schaufeln als Speere, die sie dann auch wirklich abfeuern. Sie hauen, wenn sie nicht weiterwissen, mal eben drauflos. Und sie wissen oft nicht weiter. Und trotzdem, und in diesem Punkt ist das Universum wirklich ungerecht, sind sie die Chefs der Gruppe, die Bestimmer. Sie scheinen eine nicht zu erklärende Anziehungskraft auf ihre Kindergartenfreunde auszuüben. Vielleicht aus demselben Grund, aus dem bestimmte Frauen Massenmördern Liebesbriefe ins Gefängnis schreiben. Die Faszination des Bösen.

Als Erwachsener muss man sich dann sehr zusammenreißen, um dem eigenen Kind nicht zu raten: „Wehr dich! Baller dem Karl doch mal ordentlich eine. Dann ist vielleicht Ruhe.“ Das geht natürlich nicht, wir sind ja zivilisiert, tolerant und überhaupt Vorbild für unsere Kleinen. Stattdessen also: „Das ist aber nicht nett von Karl. Hast du auch schön ‚Stopp, ich will das nicht‘, gerufen? Vielleicht müsst ihr mal im Morgenkreis drüber reden.“

Nichts fordert unsere zivilisatorische Größe als Eltern so sehr heraus wie so ein Chef-Kind, das unserem eigenen Goldstück absichtlich wehtut. Wilder Mutterin­stinkt (Kämpfen, Gefahr plattmachen) trifft hier auf Zivilisation (Ich würde gern, aber ich weiß, ich muss es anders lösen. Friedlich. Ist doch ein kleines Kind. Okay, kein kleines Kind, ein kleiner Teufel, aber trotzdem.). Und es ist ja nicht nur der Kindergarten, es geht nachmittags auf den Spielplätzen fröhlich weiter. Da muss man sich neue Strategien ausdenken. Ich kenne eine Mutter, die ihre zweijährige Tochter beim Spielplatzbesuch mafiamäßig verteidigt. Versperrt ein anderes Kind ihrer knapp Zweijährigen den Weg auf ein Klettergerüst („Weg da, hier kommst du nicht durch“), dann wartet sie zunächst ab, fragt dann freundlich mit kindgerechter Stimme, ob es kurz Platz machen könne. Brutalo-Kind: „Nein! Mach ich nicht!“ Mutter leise, aber bestimmt: „Das ist aber schade, denn dann muss ich dir gleich sehr wehtun …“

Kürzlich schubste ein großer Junge ihr kleines Mädchen von der Treppe zur Rutsche. Das Mädchen fiel in den Sand und weinte. Die Mutter sagte tadelnd zum Unhold: „Die Luise ist doch viel kleiner als du. Das ist doch gemein, ihr so wehzutun.“ Keine Reaktion vom Aggressor. Okay, härteres Geschütz. Sie schaute sich um, ob die Luft rein war, sprich, keine anderen Mütter in Hörweite, und sagte dann mit Grabesstimme: „Wenn du Luise noch ein einziges Mal wehtust, dann rufe ich die Polizei. Dann kommst du ins Gefängnis und siehst deine Eltern niemals wieder …“

Vielleicht werde ich das mal mit Karl probieren. Aber vermutlich petzt er auch noch sofort. Oft sind ja die Brutalsten auch die größten Memmen. Und während ich mir meine sehr unerwachsenen Gedanken machte, sagte die Fünfjährige, dass sie eine gute Idee habe. „Wir spielen einfach mit Karl und ziehen ihn zu den netten Kindern. Dann gewöhnt er sich an die Nettigkeit. Und irgendwann wird er dann ganz automatisch immer nett. Ist das nicht toll?“

Vielleicht braucht es die Karls dieser Welt, um fürs Leben zu trainieren.