Von Gaddafi bis Erdogan – wie Autokraten immer wieder demokratische Staatenlenker durch die Manege der Weltpolitik tänzeln lassen

Im Herbst 2004 trat Gerhard Schröder einen Staatsbesuch an, der wenig Spaß versprach. Der Bundeskanzler reiste nach Tripolis, um mit einem Fan ausgefallener Sonnenbrillen zu posieren. Die Kollegen Sarkozy, Blair und Berlusconi waren auch schon beim prominentesten Camper der Welt zum Kamelegucken vorbeigekommen. Der stets fantasievoll gewandete Gastgeber: Muammar al-Gaddafi, der seine einzigartige Ideologie aus Scharia und Marxismus, Terror und Antisemitismus mit Personenkult satt zusammenhielt.

Warum machten die Führer des freien Europa ihren Kratzfuß beim Irren aus Tripolis? Kelly M. Greenhill, Professorin an der Tufts University in Boston, weiß es: Der Ober-Libyer drohte damals, afrikanische Flüchtlinge scharenweise übers Mittelmeer nach Europa zu schicken. Als vorderster Grenzer der EU gelang es Gaddafi mehrfach, Sanktionen gegen sein Regime abzumildern, das US-Flugzeuge abschießen und RAF-Terroristen unterstützen ließ.

Die Politologin Greenhill, 46, forscht über „Massenmigration als Waffe“, also das gigantische Erpressungspotenzial, mit dem Schleusenwärter wie einst Gaddafi und heute Erdogan demokratische Staatenlenker durch die weltpolitische Manege tänzeln lassen. Menschenmengen bauen nicht nur bei Revolutionen Druck auf; das wusste auch Erich Honecker, als er vor 30 Jahren großzügig tamilische Flüchtlinge nach Westdeutschland durchleitete.

Klar kann man sich ironisch-selbstgewiss über das Ansinnen des türkischen Staatschefs erheben, eine zweifellos gelungene Satire verbieten lassen zu wollen. Dass die Kanzlerin das Filmchen nicht erdoganhaft verbannt hat, wird den „Bonsai-Sultan“ (Achtung, Botschafter Erdmann, hier lauert eine weitere Einbestellung!) kaum zur Ruhe bringen, sondern zur nächsten Machtprobe aufstacheln.

Wäre Merkels Steuerungsverlust mit dem Frieden in Syrien gestoppt? O nein. Die selbst ernannte islamistische Gegenregierung im Bürgerkriegsland Libyen droht bereits, afrikanische Migranten übers Mittelmeer zu schicken, sollte die EU die Nebenherrscher nicht anerkennen.

Nach Syrien ist vor Libyen, nach Gaddafi ist vor Gaddafi.