Wenn der Nachwuchs diese Frage stellt, beginnt der alljährliche Albtraum: unser Kurzurlaub. Diesmal will die Chefin „moralisch verreisen“.

Wir sind eine unternehmungslustige Familie. Reisen sind die Höhepunkte des herzlichen Miteinanders, vor allem in engen Flugzeugen. Ach, die schönsten Wochen des Jahres: Wir stopfen Koffer und Taschen weit bis übers Limit, wir versuchen am Abend vorher Online-Check-In und gucken am Flughafen so lässig, als hätte der Check-In online geklappt. Wir lieben es, mit gemalten Stadtplänen durch Nester zu streifen, in denen wir nur gelandet sind, weil ein Billigflughafen in relativer Nähe liegt. Und natürlich authentisches Essen auf achtsprachigen Speisekarten, serviert von authentischen Leichtlohnkräften, wie sie auch bei uns zu Hause rackern. „So authentisch“, sagt die Gattin, lugt durch den Plastikvorhang vom Straßencafé ins Grau („Da hinten wird’s heller“), während die Jungs sich ums Smartphone balgen.

Ich seufze wertfrei. Städteurlaub bildet, vor allem die Resilienz. Buddeln die Archäologen der Zukunft unsere Wohnung aus, werden sie Fotoalben finden, in denen ausschließlich Ferienbilder eingeklebt sind. Leben ist Urlaub, die Zeit dazwischen dient nur als Anlauf für den nächsten Ausflug.

Kleines Problem: Verreisen erfordert Geld und Zeit und Synchronizität. Schulkind und Student haben zwar drei Monate Ferien im Jahr, die aber mit den Brückentagen der selbstständigen Eltern kaum zu vereinen sind. Eine gemeinsame Woche? Eher organisiert die Kanzlerin Harmonie in der EU. Die Chefin hat uns dieses Jahr für Osterurlaub entschieden, unter Reiseprofis auch als kleine große Ferien bekannt. Kooperativ rege ich an, dass ich die drei zum Flughafen bringen und wieder abholen könnte: „Das wäre doch mal was, Schatz, ganz allein mit zwei charmanten jungen Männern“ – ausgeschatzt. „Du kommst mit!“, befiehlt Mona. Die Jungen grienen. Karl, der Große, hat zwar auch keine Lust, aber die Aussicht auf mehrere Mahlzeiten am Tag sowie Rundumneueinkleidung sind Korruption genug. Ich habe noch die teigfarbene Freizeithose vom letzten Mal; textiles Zeugnis grenzenloser Lockerheit.

Wenn sich vier Menschen erholen wollen, kommt selten was Gemeinsames dabei heraus. Ich zum Beispiel kann eine Woche durchlesen und will nicht viel reden. Hans dagegen entspannt erstens beim sinnfreien Dauermonolog, zweitens mit aufgeregtem Bewegen und drittens in jenem Moment, da er die Disneyland-Premium-Event-Trips der Klassenkameraden mit souveränem „Drei Tage Ljubljana“ kontern kann. Flug war halt günstig.

Die Chefin wiederum findet, dass Ferien eine ideale Gelegenheit für darstellendes Familienleben bieten, also das Vorführen harmonischen Miteinanders für Menschen, die wir gar nicht kennen. Deswegen gehen wir Arm in Arm und scherzend zum Essen, obwohl wir uns noch zwei Minuten zuvor die Augen auskratzen wollten. Man nennt es Konsens, denn alle anderen Familien im Ferienclub spielen ebenfalls eine ZDF-Vorabendserie nach. Die Männer tragen teigfarbene Hosen dazu, Segelschuhe und rosa Polohemden, lassen mal fünfe gerade sein und spendieren Schaumwein für die Gattin, die sich mit vier Wochen Pulverfutter ins Sommerkleid gehungert hat. Die Jungs gucken verstohlen nach Mädchen und hoffen, dass ihre nagelneuen Skateboardschuhe beachtet werden.

Manchmal ist danach Disco. Seit Monaten träume ich schwitzend, dass ich sturzbetrunken ein cremefarbenes Sakko mit lila Innenfutter über meinem Kopf kreisen lasse, woraufhin die Chefin nicht etwa in meine Arme strebt, sondern zum Scheidungsanwalt. Die Jungs wiederum erkundigen sich nach Adoptionsbedingungen. Die Albträume begannen genau an jenem Novembertag, als Hans fragte: „Wohin fahren wir eigentlich über Ostern?“ Ich schwieg in der Hoffnung, dass bald alles ausgebucht sei. Dummerweise übernahm die Chefin das Planen. Nicht leicht. Da Ostern früh liegt, ist die Sonne nur im südlichen Mittelmeer sicher. „Ägypten“, krähte Hans. Abgelehnt. Da werden Menschen eingesperrt, die für Zeitungen arbeiten. Italien ist voll mit Berlinern, Spanien zu seniorenhaltig, Portugal sehr klein. Die Kanaren sind zu weit. Bliebe Griechenland, auch als Zeichen von Solidarität. „Auf Lesbos sind die Touristenzahlen massiv zurückgegangen“, meldet Karl. Sätze, die das Ferienplanen nicht entspannen.

Es ist zum Verzweifeln: Da ringt man um gesellschaftlichen Status und will Nachbarn, Klassenkameraden, Kollegen beeindrucken. Aber die Chefin entscheidet plötzlich: „Wir müssen moralisch verreisen“ – also politisch korrekt und ohne viel CO2. Da bleibt nur die Ostsee. Mit dem Regional­express. Saubere Sache. Ich freue mich.