In dem Drama „Son Of Saul“ folgt die Kamera einem Auschwitz-Insassen

Zu den ungeschriebenen Gesetzen der Oscar-Verleihung gehört, dass ein einigermaßen gut gemachter Film über den Holocaust stets eine Favoritenrolle einnimmt. Die Wettquoten für die Kategorie „Bester ausländischer Film“ sprachen daher für László Nemes’ „Son Of Saul“ – und sollten mit dem ersten Oscar für Ungarn seit István Szabós Triumph mit „Mephisto“ 1981 ja auch Recht behalten. Das einzige Argument, das im Vorfeld gegen den Film vorgetragen wurde, war folgendes: „Son Of Saul“ sei eventuell zu düster, um genügend Stimmen zu erhalten. Was im Rahmen einer Diskussion über das Für und Wider von Oscar-Chancen noch durchgeht, legt bei genauerer Betrachtung das Dilemma eines jeden Films zum Holocaust frei: Da wird das Schrecklichste zum Thema gemacht, aber doch in einer Form, dass es Leute noch ertragen können.

Nemes erzählt vom Horror des Vernichtungslagers Auschwitz mit einem neuen, radikalen Ansatz. Die Kamera folgt den ganzen Film über im Wesentlichen einer einzigen Person und zeigt dabei zum größten Teil nur ein Gesicht in Großaufnahme: Es ist das von Saul (Géza Röhrig), einem KZ-Insassen, der zur Mitarbeit an den Aufräumarbeiten vor und nach den Vergasungen gezwungen wird. Eines Tages meint Saul unter den Opfern seinen Sohn zu erkennen. Nun will er alles dafür tun, die Leiche des Jungen vor dem Krematorium zu bewahren, um sie selbst nach jüdischer Tradition bestatten zu können. Die Suche nach einem Rabbi führt ihn über das Gelände und konfrontiert ihn – und den Zuschauer – mit den grauenhaften Aspekten des Vernichtungslagers.

Die absolute Konzentration auf Saul im Zentrum macht es möglich, die verschiedensten Facetten der Naziverbrechen zu zeigen, ohne den Horror und seine Opfer allzu explizit nachinszenieren zu müssen. Die willfährigen Hinrichtungen, die Sadismen der Zwangsarbeit, die verlogene „Begrüßung“, die die Opfer vor der Gaskammer zum Ablegen der Kleider auffordert, und die grausigen Appelle an Eile und Gründlichkeit bei den Aufräumarbeiten danach – das alles spielt sich in „Son Of Saul“ im Hintergrund ab und büßt doch nichts von seinem Schrecken ein.

„Son Of Saul“ H 2015, 107 Min., ab 16 J., R: Laszló Nemes, D: Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, tägl. im Abaton, Passage; www.sonofsaul.de