Bundesverdienstkreuzträgerin Birgit Müller erklärt im Interview, warum sie sich dennoch für Hinz&Kunzt entschied, wie alles in Pinneberg begann und warum sie den VW Käfer hasst

Fast alle Plätze im Vertriebsraum mit dem Kaffeetresen sind an diesem Winternachmittag besetzt. Hier, an der Altstädter Twiete in der Hamburger Innenstadt, treffen sich die Verkäufer von Hinz&Kunzt, aber auch viele andere Menschen. Zum Plausch, oder einfach, um sich an kalten Tagen ein wenig aufzuwärmen. Chefredakteurin Birgit Müller kommt direkt aus einer Konferenz, bietet Kaffee an und führt den Gast durch die Räumlichkeiten, in denen sie einen Monat zuvor den Erhalt des Bundesverdienstkreuzes mit ihrem Team und Gästen feierte. Seit der Gründung von Hinz&Kunzt im Jahr 1993 arbeitet die Journalistin für das Straßenmagazin. Um ihr Engagement soll es auch in dem verabredeten Interview gehen. Und um Pinneberg. Denn dies ist der Ort, an dem Müllers journalistische Karriere begann.

Hamburger Abendblatt: Frau Müller, wissen Sie noch, wie Sie Pinneberg in Ihren ersten Tagen als Reporterin der Abendblatt-Regionalredaktion empfunden haben?

Müller: Klein! Aber ich war damals positiv überrascht, als ich die Akteure vor Ort kennenlernte. Ich kannte ja nur die üblichen PI-Klischees vom vermeintlichen Provinzidioten und musste dann feststellen, dass diese aus einer unglaublichen Arroganz der Großstädter entstammten. Ich fand die kürzeren Wege toll. Man bekam relativ schnell Kontakt zu den Menschen. Und zumindest damals haben die in den Gesprächen auch immer das gesagt, für was sie tatsächlich standen. Denn der Nachbar wusste das ohnehin.

Was verbinden Sie heute mit dem Kreis Pinneberg?

Birgit Müller: Vor allem Lebenserfahrung. Ich bin nach dem Studium in die Region gekommen und hatte von der Arbeitswelt zuvor noch nicht viel gesehen. Es war eine wahnsinnig spannende Zeit. Ich habe beispielsweise morgens eine Müllverbrennungsanlage besucht und wusste vorher eigentlich gar nicht, was man da macht, habe nachmittags mit Landwirten über ihre Sorgen gesprochen und abends Politiker getroffen. Das war eine sehr intensive Zeit. Ich habe selten so viel in so kurzer Zeit gelernt.

Eigentlich waren Sie Lehramtsstudentin. Warum haben Sie dennoch als Journalistin angefangen?

Müller: Das war mein Traumberuf. Ich wollte immer zum Hamburger Abendblatt, habe mir damals auch extra für die Tätigkeit in Pinneberg ein Auto gekauft, einen weißen VW Käfer. Und ehrlich: Alle lieben den Käfer, ich hasse ihn. Ständig waren die Fenster beschlagen, bei Regen konnte man auch nichts sehen. Es war schrecklich.

Warum haben Sie Pinneberg und der Redaktion nach zwei Jahren den Rücken gekehrt?

Müller: Ich wollte gern ein Volontariat machen, und als daraus nichts wurde, habe ich erst mal mein Referendariat gemacht, um eine abgeschlossene Berufsausbildung zu haben. Später bin ich dann zum Abendblatt zurückgekehrt und habe in Hamburg gearbeitet. Zunächst als freie Mitarbeiterin, dann als Redakteurin.

Waren Sie in Ihrer Anfangszeit als Journalistin auch schon auf soziale Themen spezialisiert?

Müller: Interesse daran hatte ich auch schon in der Pinneberger Zeit, war aber nicht darauf spezialisiert. Als Redakteurin habe ich mich später in Hamburg um den Hafen, um Soziales und die Gewerkschaften gekümmert. Das Soziale hat mich immer gereizt, weil man sich in diesem Bereich am meisten mit Menschen befasst, mit ihren Abgründen, Aufs und Abs. Vor allem aber auch, wie Menschen wieder hochkommen, etwas überwinden oder überstehen.

Warum sind Sie nicht geblieben, wenn Sie doch immer von einer Anstellung beim Abendblatt geträumt hatten?

Müller: Es gab zwei Dinge beim Thema Soziales, die mir damals bei normalen Tageszeitungen aufgefallen sind. Ich hatte zum einen das Gefühl, dass ich zu wenig an die Betroffenen herangekommen bin und zum anderen, dass das Soziale immer dann besonders interessant war, wenn etwas bei Einrichtungen schiefgelaufen ist. Das mag heute etwas anders sein, aber damals war das so und für mich nicht die Art von sozialer Berichterstattung, die ich von mir erwartete. Mit den Menschen, über die ich früher geschrieben habe, lebe ich heute quasi zusammen. Und das finde ich toll.

Wie kam es dann zum Wechsel zum Straßenmagazin Hinz&Kunzt?

Müller: Ich habe bei Recherchen Stephan Reimers kennengelernt. Der war damals Aufsichtsratsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und wurde dann auch neuer Diakonie-Chef. Er hatte die Idee für Hinz&Kunzt und stellte diese damals einigen Journalisten vor. Ein Straßenmagazin mit sozialen und kulturellen Themen, das von Obdachlosen verkauft werden soll. Ich war Feuer und Flamme, auch weil es die Gelegenheit war, ein ganz neues Magazin aus der Taufe zu heben, das eine soziale Stimme in der Stadt werden sollte. Ich habe mich in die Menschen verliebt, in das Projekt und in die Idee, dass Obdachlose und Nicht-Obdachlose zusammenarbeiten, indem Journalisten das Magazin machen und Obdachlose den Vertrieb.

Inwieweit wurden Ihre Erwartungen an das Projekt erfüllt?

Müller: Es war viel heftiger als wir es uns vorgestellt haben, auch viel tiefschürfender, welche traumatischen Erfahrungen die Menschen hatten. Wir selbst haben menschlich wie journalistisch bis zum Anschlag gearbeitet, aber es war genau das, was ich mir gewünscht hatte. Anfangs hatte ich damit gerechnet, dass das Projekt vielleicht für zwei Jahre läuft, und da haben mich einige Leute sogar schon für verrückt erklärt. Jetzt bin ich schon mehr als 22 Jahre dabei.

Haben sie ein Helfer-Gen?

Müller: Es interessiert mich, wie es meinen Mitmenschen geht. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich ständig ehrenamtlich tätig wäre. Wir versuchen Sinn und Möglichkeiten zu stiften. Wenn es funktioniert, schaffen die Menschen am Ende selbst etwas – und das ist ja das Wichtige.

Sie haben es in Ihrem Job mit vielen Schicksalen zu tun. Inwieweit mussten Sie lernen, mit diesen umzugehen?

Müller: Es war und bleibt immer ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz. Gerade nach den ersten beiden Jahren war eine große Erschöpfung da, weil wir viele Menschen auch wieder verloren hatten. Es berührt mich auch heute noch, was die Menschen erleben, aber ich merke schneller, wenn ich zu nah rangehe.

Ist die Obdachlosenproblematik in Hamburg eine andere als im Umland?

Müller: Ich denke ja. Hamburg ist eine Metropole. Viele Menschen kommen hierher, weil sie glauben, dass sie hier beispielsweise eher einen Job bekommen – und das funktioniert dann nicht. Natürlich gibt es das auch im Umland, aber nicht in der Masse wie in einer Großstadt.