Pinneberg. Nur knapp überlebte Pinnebergs Bezirksschornsteinfeger Thomas Treichel einen Zwölf-Meter-Sturz. Jetzt klettert er wieder auf die Dächer, die ihm die Welt bedeuten

Thomas Treichel, 44, setzt den Fuß aus der Dachluke auf das regennasse Flachdach. Der Wind zerrt in kalten Böen an seinem schwarzen Zylinder. Auf der gewellten Dachpappe des 15 Stockwerke hohen Wohnblocks an der Pinneberger Diesterwegstraße schwappen Pfützen. Hier oben, mehr als 40 Meter über dem benachbarten S-Bahnhof Thesdorf, verstummen Züge, Autos, jegliche Alltagsgeräusche.

Das Panorama ist phänomenal. Selbst im diesigen Grau dieses Wintermorgens schweift der Blick mühelos zum Rellinger Kirchturm, über die Kreisstadt und weit über die Feldmark. Treichel lächelt. „Ich liebe meine Arbeit auf den Dächern“, sagt der Schornsteinfegermeister. Seit 2011 betreut er mit seinen drei Angestellten als bevollmächtigter Bezirksschornsteinfeger den Kehrbezirk Pinneberg IV, der annähernd 2800 Liegenschaften in Pinneberg-Süd, Waldenau und einem Teil von Rellingen umfasst. „Es ist sehr schön, so weit oben. Die Welt liegt einem so friedlich zu Füßen.“ Höhenangst? Kennt Thomas Treichel nicht.

Und das, obwohl ihn das berufsbedingte Balancieren auf schrägen Firsten beinahe das Leben gekostet hätte. Am 12. Mai 2014 gegen 8.30 Uhr rutschte der Familienvater auf den schmalen Trittrosten auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses am Walde­nauer Marktplatz aus, stürzte zwölf Meter tief und prallte mit voller Wucht auf die betonierte Einfahrt zur Tiefgarage. Wie durch ein Wunder überlebte Treichel. Heil blieben allerdings nur die Füße und die inneren Organe. Auch die Wirbelsäule nahm vergleichsweise wenig Schaden. Arme, Beine und der Unterkiefer jedoch waren mehrfach gebrochen, unter der Schädeldecke entstanden gefährliche Blutergüsse.

Schon im Rettungshubschrauber kämpften die Notärzte um Treichels Leben. Für eine Woche versetzten sie ihn ins künstliche Koma, operierten ihn mehrfach. „Ich kann mich daran überhaupt nicht erinnern, weder an den Sturz noch an die Rettung“, sagt Treichel. „Das ist alles weg, ich weiß nicht einmal mehr, wie ich auf das Dach hinaufgekommen bin.“

Über Monate verfolgten ihn Albträume, Schmerzen hat Treichel bis heute

Der Maimorgen sei regnerisch gewesen, böig, dunkel. Manchmal blitze ein Erinnerungsmoment auf. „Ich sehe dann, wie ich vergeblich versuche, im Abrutschen und Fallen das Schneefanggitter zu erwischen.“ Über Monate verfolgten ihn Albträume. Schmerzen hat er bis heute. Acht Operationen hat er hinter sich, in zwei weiteren werden die Ärzte ihm die Metallplatten aus Armen und Beinen entfernen.

Seine erste Erinnerung nach dem Aufwachen auf der Intensivstation? „Das Gesicht meiner Frau“, sagt Treichel. Dass er sie erkannte, sei keineswegs selbstverständlich gewesen. Die Blutungen hätten das Hirn schwer geschädigt haben können, die Ärzte wagten keine Prognose. Treichel spürte die Verletzungen deutlich. „Mehr als zwei Wochen hat es gedauert, bis ich wieder klar denken konnte.“ An Sprechen und Essen war mit dem zertrümmerten Unterkiefer nicht zu denken. Nach sieben Wochen in den Hamburger Krankenhäusern St. Georg und Boberg genoss Thomas Treichel seine erste feste Nahrung, eine Kartoffel. „Himmlisch!“

Ob er je wieder seinen Beruf ausüben können würde, war zu dem Zeitpunkt völlig. Für Treichel stand sein 2011 erkämpfter Kehrbezirk auf dem Spiel und damit die Existenz.

Als Treichel in die Klinik lag, halfen mehr als ein Dutzend Kollegen für ihn aus

Während der Chef in der Klinik lag und es ohne Hilfe noch kaum in den elektrischen Rollstuhl schaffte, ergriff das Team im Pinneberger Büro an der Mühlenstraße die Initiative. „Es war ein Schock für uns und sprach sich wie ein Lauffeuer unter unseren Kunden herum“, sagt Treichels Büromanagerin Katrin Sieger. Dutzende von Karten mit guten Wünschen erreichten den Schornsteinfeger in der Klinik, die Pinneberger brachten Blumen ins Büro, erkundigten sich nach seinen Fortschritten. „Das war sehr bewegend.“ Mehr als ein Dutzend Kollegen halfen aus. Umschichtig nahmen sie in Treichels Kehrbezirk die hoheitlichen Aufgaben wahr, sicherten seine Existenz.

Der Auszubildende, später Landesbester seiner Zunft, machte den Führerschein, um Treichel zu chauffieren, damit dieser trotz seiner Verletzungen zu den Kunden gelangen konnte. „Meine Frau hat immer an meine Genesung geglaubt“, sagt der Schornsteinfeger. Und er selbst? „Ich habe darüber eigentlich in den ersten Wochen wenig nachgedacht.“

In der neunten Krankenhauswoche fasste er sich ein Herz, fragte den Chefarzt, ob er je wieder auf eigenen Beinen laufen könne. „Das hat er bejaht, und danach habe ich mit aller Kraft trainiert.“ In der elften Woche stand er zum ersten Mal wieder auf seinen Füßen, gestützt von einer Krücke. Im Oktober, fünf Monate nach dem Unfall, saß er wieder im Büro. „Da konnte ich 100 Meter mit Krücken laufen.“

Auf Krücken schleppte er sich Treppen hoch, kletterte auf einem Bein humpelnd aus Dachluken. „Ich habe mich durchgebissen und sehr viel über Geduld gelernt“, sagt er. Am 1. Januar 2015 nahm er offiziell wieder seine Tätigkeit auf. Von dem früheren Dauerstress sei er allerdings noch weit entfernt, sagt Treichel. „Und da will ich auch nicht wieder hin.“ Seit dem Sturz verbringe er deutlich mehr Zeit mit seiner Frau und dem acht Jahre alten Sohn. „Der Betrieb und meine Kunden sind weiterhin sehr wichtig für mich. Ich versuche aber, genügend Zeit für die Familie zu organisieren.“