Seit 20 Jahren versorgt der Mitternachtsbus der Diakonie Menschen, die in Hamburg auf der Straße leben, mit Kaffee, Tee und Brötchen – sowie mit Rat und Tat

Der Bärtige schlurft aus einem Kaufhauseingang in der City. Er bekommt einen Kaffee mit viel Zucker. Und zwei Brötchen mit Käse und Wurst. Ein großer Hut zähmt die langen Haare, ein Mantel schützt den älteren Mann gegen die Kälte. Über die randlose Brille schauen seine wachen Augen in das Innere des Mitternachtsbusses. „Soll ich euch einen Witz erzählen? Treffen sich zwei Wahrsager. Sagt der eine: Kommst du morgen mit? Sagt der andere: Nee, da war ich schon.“

Der Bärtige lacht. Er ist ein guter alter Bekannter. Beatrix, 50, und Ute, 55, packen ihm die Brötchen ein. Noch einen Berliner? Und Taschentücher? „Ja, gerne. Danke.“ Manuel, 51, hat hinten im Bus, wo auf einem Tresen drei Kanister mit heißem Wasser stehen, den Kaffee fertig. Er reicht den warmen Pappbecher nach vorn. „Bitte schön.“

Eigentlich macht Manuel an jeder Haltestelle hinten die Klappe auf, um Kaffee, Tee, Kakao oder Brühe auszugeben. „Heute ist es zu kalt.“ Der Winter hat Hamburg an diesem Januar-Abend fest im Griff. Minus fünf Grad, dazu ein eisiger Wind und Schneefall. Ein Wetter, das niemanden freiwillig auf die Straße treibt. „Ein Lichtblick in der kalten Stadt – der Mitternachts-Bus“ steht in bunten Buchstaben auf dem Transporter, der 365 Tage im Jahr unterwegs ist. Die erste Station ist um kurz nach acht am Wallringtunnel, nachdem in zwei Dat-Backhus-Filialen acht Körbe mit belegten Brötchen und Kuchen eingeladen worden sind. Der letzte Halt ist kurz vor Mitternacht am Bahnhof Altona. Dazwischen liegen rund 20 Stationen.

„Manche wollen nur Kaffee und Brötchen, andere ein bisschen reden oder einen Rat, wenn sie nicht weiterwissen“, sagt Beatrix. Seit zehn Jahren ist sie als ehrenamtliche Helferin im Bus dabei. „Kein Mensch soll auf Hamburgs Straßen erfrieren.“ Das war der Leitgedanke für Landespastor Stephan Reimers, um vor 20 Jahren das Projekt Mitternachtsbus zu gründen. In dem Antrag an das Spendenparlament hieß es: „In Hamburg gibt es für unsere auf der Straße lebenden, obdachlosen Mitmenschen nach 20 Uhr kaum Möglichkeiten sich aufzuwärmen. Täglich von 20 bis 24 Uhr sollen, wenn möglich, mehrere Busse durch die Straßen fahren und diesen Mitmenschen heiße Getränke, etwas zu essen und ein wenig Zeit spenden.“

Stephan Reimers hatte einen Artikel über einen Bus in Frankfurt gelesen, der Obdachlose nachts versorgt. „Diese Idee brachte ich nach Hamburg mit.“ Anfang der 90er-Jahre wurden hier rund 7000 Obdachlose gezählt. Momentan spricht die Diakonie von mehr als 2000 Menschen, die in Hamburg auf der Straße schlafen. Auch an Wintertagen.

„Das Interesse an diesem Projekt war von Anfang an groß“, sagt Reimers. „Nach einem Artikel im Abendblatt meldeten sich 70 Ehrenamtliche.“ 20 Jahre später sind es 140 Hamburger, die in Vierer-Teams einmal im Monat einen Abend lang für die Menschen da sind, die irgendwann einmal von ihrem geplanten Weg abgekommen sind.

Den Helfern zeigt sich ein Hamburg, das den meisten verborgen bleibt

Michael, 47, ist an diesem Abend der Erste. Er wartet bei Saturn schon auf den Mitternachtsbus. Ein kleiner Mann mit müdem Blick und einem großen Rucksack. Seine ganze Habe. Er ist in Flensburg aufgewachsen und hat als Landschaftsgärtner gearbeitet. Die Trennung von seiner Freundin, sagt er, habe ihn völlig aus der Bahn geworfen. Seit 15 Jahren lebt er auf der Straße. Manchmal sei er dicht dran gewesen an den eigenen vier Wänden. Aber wenn er die misstrauischen Blicke der Nachbarn gesehen habe, sei er wieder gegangen. Zurück in sein Leben auf der Straße. Irgendwo in der Stadt hat er ein warmes Plätzchen gefunden. Das reiche ihm, sagt er.

Ute und Manuel sind seit vier Jahren im Helferteam. „Die ehrenamtliche Arbeit bringt uns auch deshalb viel, weil sie uns immer vor Augen führt, wie gut es uns geht“, sagt Ute. „Man kann auch mal was zurückgeben“, sagt Manuel. Sie entdecken dabei ein Hamburg, das den meisten verborgen bleibt. Und sie treffen auf völlig unterschiedliche Menschen. Den typischen Obdachlosen, sagen sie, gebe es nicht. Es seien mehr Männer als Frauen, viele kommen inzwischen aus dem Osten. Es gibt die Stillen und die Redseligen. „Manche sind eloquent, schlagfertig und interessiert“, sagt Beatrix. Zu manchen bauen sich über die Jahre richtige Beziehungen auf. „Und wenn man dann erfährt, dass einer nicht mehr zum Bus kommt, weil er gestorben ist, tut das weh.“

Der „Niederländer“ war heute nicht an seinem Platz. Der „Intellektuelle“ hat sich auch nicht blicken lassen. „Der erzählt gerne die Geschichte, wie er Helmut Schmidt das Rauchen auf dem Dammtor-Bahnhof verbieten wollte. Schmidt habe gesagt, er dürfe überall rauchen, und dann die Kippe weggeworfen. Der Intellektuelle hat sie aufgehoben und zu Ende geraucht“, sagt Manuel.

Beatrix führt nach jeder Haltestelle eine Strichliste. Am Ende dieses kalten Abends haben sie 74 Menschen das Gefühl vermittelt, dass sie nicht vergessen sind. Sie haben der alten Dame, die jeden Abend im Foyer der Staatsoper sitzt, Kaffee und Brötchen gebracht. Marek aus Polen, der in Socken und Sandalen zum Bus kommt, möchte den Kaffee „ohne Zucker“. „Wegen diesem Krebs im Magen“, sagt er und tippt mit dem Finger auf seinen Bauch.

Beatrix sagt, sie können den Schmerz der Menschen, die zum Bus kommen, nur lindern. „Aber wir können ihn nicht heilen.“ Sie können da sein und zuhören. Dabei treffen sie immer wieder auf Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen.