Lübeck/Stapelfeld. Angeklagter rechtfertigt Bluttat von Stapelfeld in einem wirren Brief an den Gutachter. Der handelt von dämonischen Geistern.

Ist dieser Mann völlig wahnsinnig, der im Juni in der Müllverbrennungsanlage (MVA) Stapelfeld einem Arbeitskollegen eine Schlackegabel – eine Mistgabel mit 26 Zentimeter langen, um 90 Grad abgewinkelten Zinken – ins Gesicht gerammt haben soll? Zweiter Verhandlungstag vor dem Landgericht Lübeck. Florin D. (Name geändert), 23, setzt wirklich alles daran, genau so zu wirken. Aussagen möchte er nicht. Aber in seiner Zelle hat er dem psychiatrischen Gutachter einen Brief geschrieben.

Dass er 20 eingebildete Geschwister habe, ist darin zu lesen, und dass er seine Befehle vom Teufel bekomme. Die dämonischen Geister, die seine Kinder töten und seine Frauen vergewaltigen wollen, habe er mit einer Feuer-Wasser-Opfer-Darbietung besänftigt. So begründet D. den „Amoklauf“ in Stapelfeld am 17. Juni vergangenen Jahres wie auch den Umstand, dass er später im Jahr den Aufenthaltsraum im Gefängnis angezündet hat.

D. will im Gericht also nicht sprechen, schweigen liegt ihm aber ebenso wenig. „Höhöhö“, lacht er, als der Vorsitzende Richter Christian Singelmann den Brief verliest. Womöglich möchte er gerade auch Beifall klatschen, aber Justizvollzugsbeamte haben die Hände des als hochgefährlich eingestuften Mannes in Höhe seiner Hüften fest an seinen Körper gefesselt.

Wie genau hat sich alles zugetragen an jenem 17. Juni 2015 zur Nachmittagszeit? Darum geht es nun vor Gericht. Es gibt offenbar keine Augenzeugen, sondern lediglich einen Ohrenzeuge: den 48 Jahre alten Inhaber einer für die MVA tätigen Industriereinigungsfirma. Jürgen T. (Name geändert), 60, ist am Tattag schon seit vielen Jahren Aushilfe in dem Betrieb, der Kosovare Florin D. Leiharbeiter am zweiten Tag. Er ist ein Mann, den keiner kennt und über den keiner etwas wissen will. „Hier hast du Helm und Schutzkleidung“: Darauf beschränkt sich im Wesentlichen das einzige Gespräch zwischen Firmenchef und neuem Leiharbeiter. Dann teilt der Chef die Teams ein. Jürgen T. und Florin D. sollen das Kesselhaus in Stapelfeld reinigen.

Nachmittags bekommt der Chef (er sagt, er habe ständig Ärger mit Leiharbeitern – „meist kommen sie am zweiten Tag nicht mehr“) einen Anruf aus Stapelfeld. Jürgen T. beschwert sich, weil der Neue rumzicke, schon um 14 statt um 16 Uhr Feierabend machen wolle, seine Schutzkleidung ausgezogen habe. Aber der Chef handelt nicht. Im Gericht erinnert er sich: „Ich dachte, bis 16 Uhr wird das noch hinhauen, was soll schon passieren? Dann war das Gespräch abrupt beendet, ich hörte nur noch schweres Atmen und im Hintergrund ausländisches Geschimpfe und Gejammer. Das war merkwürdig.“

Um diese Zeit steht die Uhr angeblich auf 15.26 Uhr. Gefunden wird Jürgen T. um 16.03 Uhr – im Treppenhaus des Kesselhauses, dritter Stock, vor den Aufzügen, auf dem Rücken liegend. „Er hat immer wieder versucht, sich die Zinken aus dem Gesicht zu ziehen. Sie waren bis zum Anschlag drin“, sagt der Mann, 33, der ihn zufällig entdeckt hat. Er arbeitet an diesem Tag für eine andere externe Reinigungsfirma.

Sollten die Zeitangaben stimmen, so hätte der damals 59-jährige T. mit der Schlackegabel im Gesicht furchtbare 37 Minuten lang unentdeckt gelitten.

Nach dem abgebrochenen Telefongespräch jedenfalls alarmiert sein Chef nicht den MVA-Leitstand – aus Sorge, dass das einen dummen Eindruck bei seinem Auftraggeber machen könnte. Stattdessen wird ein Bauleiter aus Hamburg-Wandsbek nach Stapelfeld beordert, um nach dem Rechten zu sehen. Er braucht 45 Minuten. Als er endlich eintrifft, sind schon andere Helfer bei Jürgen T. „Der röchelte und wollte immer wieder aufstehen“, sagt der Bauleiter. Er spricht vor Gericht von Bildern, die er nicht so schnell vergessen könne. „Höhöhö“, tönt es plötzlich von der Anklagebank. Florin D. hat augenscheinlich seinen Spaß.

Am Tattag aber, während sich Helfer um das Opfer kümmern, verlässt er seelenruhig das Gelände. Der Pförtner kann sich noch gut an den merkwürdigen Mann mit der blonden Strähne im schwarzen Haar erinnern. Rückblickend sagt er: „Entweder ist das ein ganz abgebrühter Hund. Oder er war’s nicht.“ Doch Florin D. stoppt an jenem Juni-Tag auf der Straße einen Ford Focus, raubt das Auto und flieht. Nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei wird er in einer Wohnstraße in Hamburg-Rahlstedt gestoppt und lässt sich widerstandslos festnehmen.

Nun sitzt er im Gericht und lacht und lacht und lacht. Wie ein Wunder mutet unterdessen an, dass der Vorsitzende Richter ernsthaft in Erwägung zieht, Opfer Jürgen T. könne im Laufe des Prozesses persönlich aussagen. Sein Anwalt sagt auf Nachfrage dieser Zeitung, er wolle sich erst zu einem späteren Zeitpunkt zum Gesundheitszustand seines Mandanten äußern.

Der Prozess wird am Freitag, 29. Januar, fortgesetzt.