Das Projekt Soulwriting hilft psychisch kranken oder trauernden Kindern und Jugendlichen, ihre Probleme und Ängste auf kreative Art und Weise zu formulieren. Angeleitet werden sie dabei von der Musikerin Anke Schaubrenner. Von Sabine Tesche

Es sind diese paar Minuten, in denen Anke Schaubrenner leise und wunderschön melodisch auf ihrer Gitarre zupft, die einen Unterschied machen. Dabei schaut sie in die Runde der Kinder und Jugendlichen um sie herum. Maja, 11, und Sandra, 10, malen eifrig ein Bild. Andere wie Jonas, 17, und Finn, 15, (alle Namen verändert) sitzen mit traurigem Gesichtsausdruck da. Was sollen sie nur schreiben? Dann trifft sie Anke Schaubrenners Blick, liebevoll, mitfühlend, mütterlich. Sie nickt den beiden Jugendlichen aufmunternd zu und plötzlich öffnen sie sich. Sie fangen an zu schreiben. „Anke ist so nett und locker, echt entspannend. Bei ihr geht es nicht um Therapie, sondern um Spaß, aber auch um meine Gefühle“, sagt Maja. Sie nimmt das vierte Mal am „Soulwriting“ der Stiftung Phönikks teil. Die Beratungsstelle für Familien mit Krebserkrankten bietet das Projekt von Anke Schaubrenner ganz neu für Kinder und Jugendliche an, deren Vater oder Mutter entweder akut an Krebs erkrankt oder daran gestorben sind.

„Was die Seele schreibt“, so heißt der Untertitel von Soulwriting. Dabei geht es darum, dass leidende Kinder und Jugendliche ihre Gedanken, Probleme und Sehnsüchte aufschreiben oder aufmalen und dann gemeinsam in einer Gruppe ein Lied daraus entwickeln. Manchmal zu Themen, die ein Teilnehmer vorgibt, manchmal sind es ganz freie Gedanken. Doch jeder gibt einen etwas von sich dazu, eine Strophe oder auch nur einen Satz. Und zum Abschluss jeder Stunde singen sie gemeinsam mit Anke Schaubrenner einen Song. Wie den „vom Brief an die Mama“, in dem es heißt: „Danke, es war schön mit dir, klar, ich vermisse dich, klar, ich denk an dich, denn dein Lachen, das bleibt ewig hier.“

Jonas muss sichtlich schlucken, als die Gruppe das Lied anstimmt. Der 17-Jährige hat daran mitgeschrieben – und erst vor sechs Monaten seine Mutter verloren. Sie fehle ihm so sehr, sagt er – er war allein mit ihr. Nun wohnt er in einer Wohngruppe. Seinen Vater hat er dieses Jahr zum ersten Mal gesehen. Jonas kommt immer zum Soulwriting. „Das hilft mir irgendwie, ich schreibe und singe gern. Und Anke ist so herzensfroh.“

Entwickelt hat die Musikerin Schau­brenner das Projekt vor rund sieben Jahren für Patienten der Kinder- und Jugendpsychosomatik im Altonaer Kinderkrankenhaus. Abteilungsleiter ist dort Prof. Michael Schulte-Markwort. „Prof. Schulte-Markwort hat meine musikalische Arbeit mit Jugendlichen bei Lukulule gesehen und mich gefragt, ob ich bei ihm auf der Station Musiktherapie anbieten kann“, sagt Anke Schaubrenner. Seither kommt sie jede Woche in die Abteilung und bietet Soulwriting an für Jugendliche, die unter tiefen Depressionen, Angststörungen oder Bauchschmerzen leiden. „Die Kinder können das, was ihnen in der Seele brennt oder was dort versteckt ist, zunächst in Gedanken und dann in Worte fassen. Es entsteht daraus ein Dialog aus Text und Musik. Für uns ist das ein ganz wichtiges Projekt, das die Heilung unterstützt“, sagt der Jugendpsychiater Schulte-Markwort, der diese Pflichtstunde für seine Patienten aus Spenden finanziert.

Für manche seiner Patienten wie Albert, 18, und Rea, 17, ist Soulwriting zu einem Anker im Leben geworden. Die beiden waren zusammen auf der Station im Kinderkrankenhaus, und für die schwer depressive Rea ist die Musiktherapie zu einer Art Türöffner geworden. „Ich konnte früher nicht gut reden, aber Anke hat mir so viel Gefühl von Sicherheit vermittelt, dass ich jetzt ständig schreibe und vortrage“, sagt Rea. Sie holt eine dicke Mappe voller Texte hervor und liest „Mein Käfig“ vor: „Und plötzlich finde ich die Hoffnungslosigkeit meines alten Ichs wieder ... Und langsam krieche ich wieder in meinen Käfig. Eng mich wieder in mir selbst ein ... Ich sperre hinter mir die Tür ab ... und schluck den Schlüssel. Es ist trostlos, aber es ist mein Zuhause.“ Es ist ein so trauriger Text, tief aus dem Innersten.

Manchmal tragen die Soulwriter ihre Werke auch einem Publikum vor

Sie hat ihn schon einmal vor größerem Publikum vorgelesen, in der Hamburger Kunsthalle zum ersten Jubiläum der Stiftung Kulturglück. In Zusammenarbeit mit Schulte-Markwort bietet diese Stiftung ein Folgeprojekt an: „Art of Soulwriting“, zu dem Albert und Rea regelmäßig gehen. „Die Jugendlichen lesen und singen gern vor Publikum, allerdings nur in geschützten Räumen. Aber sie sind so stolz auf ihre Stücke“, sagt Anke Schaubrenner.

Albert hat dort in der Kunsthalle auch vorgelesen. Selbstbewusst und sicher hat er seine Lyrik vorgetragen: „Ich kann nicht ohne das Leid leben. Nicht ohne die Trauer. Nicht ohne den Hass. Nicht ohne die schweren Gedanken. Für mich haben all diese Dinge in ihrer Schwere einen Zweck: Sie lassen meine Kreativität aufleben.“

Er musste 2015 für 100 Tage in die Klinik, weil sein Vater sich umgebracht hat und auch er selbstmordgefährdet war. Inzwischen scheint er sich gefangen zu haben, steht kurz vor dem Abitur, hat Zukunftspläne. „Bei mir hat Soulwriting ein Blockade gelöst. Ich habe dabei meine Kreativität entdeckt und will auf alle Fälle was mit Texten machen, vielleicht werde ich Drehbuchautor oder Regisseur.“ Er sei ein Denker und Nachdenker, sagt der schlanke junge Mann von sich.

Genau wie Rea hat Albert ein sehr inniges Verhältnis zu Anke Schaubrenner entwickelt. Die Mutter einer Tochter kann damit umgehen. Zwar stellt sie sich ganz individuell auf jeden ihrer Schützlinge ein, aber deren Kummer und Sorgen nimmt sie dennoch nicht mit nach Hause. Wahrscheinlich könnte sie diese Arbeit sonst auch nicht lange machen. Am liebsten möchte die Gesangslehrerin das Soulwriting noch auf andere Gruppen ausweiten. „Es kann auch als Teambildung in einer Firma funktionieren.“

Beatrice Züll, Geschäftsführerin der Stiftung Phönikks, ist sehr froh, dass sie das Projekt dank eines Spenders weiter anbieten kann: „Wir haben bei Prof. Schulte-Markwort die Erfolge in der therapeutischen Arbeit gesehen. Es dauert, bis sich unsere Kinder und besonders die Jugendlichen öffnen und bis sie den anderen zeigen können, was sie erlebt haben. Wenn sie sehen, dass es den anderen genauso geht, dann fühlen sie, dass sie mit dem Thema Krebs nicht alleine sind.“

Und das ist genau, was Halbwaise Finn beim Soulwriting fühlt: „Hier bin ich unter Gleichgesinnten, das tut echt gut.“