Das Teater NO99 zeigt ein gesellschaftliches Scheitern

Die Theaterarbeiten des Regieduos Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper vom estnischen Teater NO99 aus Tallinn zählen seit Jahren zu den überraschendsten im Spielplan des Thalia Theaters. Hervorgegangen ist die Beziehung aus einem Gastspiel anlässlich der Lessingtage. In „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ philosophierte das Duo geistreich mit einem energiegeladenen Ensemble über die Begrifflichkeiten des Kunstbetriebs. In der diesjährigen Festivalausgabe wird das experimentierfreudige Duo eine aktuelle Uraufführung als Deutschlandpremiere präsentieren.

„NO43 Abschaum“ verhandelt eine endgültige Dystopie. Die Evolution ist an ihr Ende gelangt, die Welt liegt ausgezählt am Boden, der Mensch sieht sich einem zerstörten Lebensraum gegenüber, in dem nur noch negative Gefühle Raum finden: Leere, Wut, Verzweiflung. Aus dieser Versuchsanordnung destillieren die Theatermacher die Frage, wie es denn nun weitergehen soll. Kann man eine neue, gelingende Gesellschaft aus dem Dreck erschaffen?

Es sind diese Grundsatzfragen der Gesellschaft, die Ojasoo und Semper immer wieder aufs Neue stellen und die sie – wie zuletzt ihr Handke-Abend „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ – regelmäßig zu Festivals zwischen den Wiener Festwochen und den Ruhrfestspielen Recklinghausen führen. Zuletzt erregte ihre Parteigründungsperformance „Unified Estonia“ weltweites Aufsehen. Politisch war die Kunst des Duos immer. Tiit Ojasoo, Jahrgang 1977, gründete nach Stationen am Estnischen Dramatheater zusammen mit der bildenden Künstlerin und Ausstatterin Ene-Liis Semper in Tallinn das Teater NO99. Die neue Produktion, die erst im Oktober in Tallinn entstanden ist, kommt diesmal dialogarm, aber umso mehr mit der sehr körperlichen Vitalität daher, für die das estnische Theater inzwischen berühmt ist.

Gesellschaftliche Fragen wortreich verhandelt haben Ojasoo und Semper bereits in ihren bisherigen Arbeiten am Thalia Theater, etwa in ihrer grandiosen Adaption eines Poems des linksintellektuellen Pädagogen Anton Makarenko, „Fuck your ego!“, die seit Jahren erfolgreich im Repertoire des Thalia in der Gaußstraße läuft. Und auch in der Uraufführung „Hanumans Reise nach Lolland“ bewiesen die Theatermacher Weitsicht, als sie von den Erlebnissen eines Inders und eines Russen in einer dänischen Asylbewerberunterkunft erzählten, die ihrem angeblichen Traumziel Amerika hinterherjagten. Immer geht es um Utopien, Sehnsuchtsorte, Scheitern – und Wiederaufstehen.

Teater NO99: „NO43 Abschaum“ So 24.1., 19.00, Mo 25.1., 20.00, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten 28,-/erm. 15,-