Karlsruhe .

Seit 65 Jahren sucht sie ihren Vater. Inge Lohmann hat dunkle Haare, konturierte Gesichtszüge und einen festen Blick. Eine Frau, die im Leben steht: Sie wohnt mit ihrem Lebensgefährten in einem kleinen Haus bei Coesfeld in Nordrhein-Westfalen und hat drei Kinder und ein Adoptivkind großgezogen.

Das ist die eine Seite. Doch die andere Seite lässt Inge Lohmann nicht los: Sie will wissen, wer ihr leiblicher Vater ist. Für sie ist es noch wichtiger zu wissen, wo sie herkommt, als für andere Kinder: Sie wurde 1950 als uneheliches Kind geboren, kurz darauf heiratet die Mutter einen anderen Mann, da ist sie drei Jahre alt. Der Stiefvater ist Alkoholiker und soll sie auch missbraucht haben. Eines Tages würgt der Stiefvater ihre Mutter bis zur Ohnmacht. Das Mädchen ruft ihren Bruder zur Hilfe. Der ersticht den Mann.

Von da an wurde der Wunsch in Lohmann nur noch stärker: Wer ist ihr leiblicher Vater? Ein besserer Mensch vielleicht? Immer wieder bohrt Lohmann bei der Mutter nach, mit 14 erfährt sie dessen Namen und besucht ihn. „Ich wollte einfach hin, sehen, wer er ist, wie er aussieht.“ Sie dachte, vielleicht hat sie einen guten Vater. „Vielleicht akzeptiert er mich, und ich lerne mal was anderes kennen als nur Gewalt“, sagt sie dem Deutschlandradio Kultur. Vater und Kind treffen sich noch einige Male in einem Café in Oberhausen, doch als ihre Mutter im Jahr 1972 stirbt, bricht der Kontakt ab.

Inge Lohmanns Leben geht weiter, sie bekommt drei Kinder, adoptiert ein weiteres und kümmert sich insgesamt um 30 Pflegekinder. Sie will geben, was ihr fehlte: Liebe. „Ich war für jemanden da und konnte Gutes tun“, sagt sie, „das hat mir darüber hinweggeholfen.“ Aber sie will auch etwas für sich: ein Bekenntnis des Vaters. Dass er zu ihr gehört. Doch der Mann, der mittlerweile 88 Jahre ist, verweigert, sich dazu zu äußern.

Ihre Mutter scheiterte schon 1955 mit der Forderung nach Feststellung der rechtsfolgenlosen Abstammungserklärung. Die Tochter fordert den Mann 2009 zum DNA-Test auf. Er aber lehnte ab. Es folgen sechs Jahre Rechtsstreit durch alle Instanzen. Seit gestern befasst sich der Bundesverfassungsgericht nun mit dem Fall. Lohmanns Anwalt Paul Kreierhoff hat in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingereicht. Die Rechtslage in Lohmanns Fall ist unklar. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1989 ein „Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung“ festgestellt. Und seit 2008 räumt Paragraf 159a einen „Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Untersuchung zur Klärung der leiblichen Abstammung“ ein.

Darin wird bestimmt, wer wen zum Gentest veranlassen darf: Der juristisch anerkannte Vater darf sowohl die Mutter als auch das Kind zur Wattestäbchenprobe zwingen. Die Mutter und das Kind dürfen ihrerseits den Vater zum Test bitten. Doch gegen einen nur mutmaßlich leiblichen Vater wie bei Inge Lohmann greift dieser Anspruch nicht. Hier greift das Recht, intime Daten nicht an vermeintlich Fremde herausgeben zu müssen (das Recht auf informationelle Selbstbestimmung).

In einem solchen Fall bleibt nur eine Möglichkeit: die Klage auf Feststellung der Vaterschaft. Die geht aber mit rechtlichen Verpflichtungen wie Unterhaltszahlungen und Fürsorge einher. Inge Lohmann aber will einfach wissen, wer ihr Vater ist. Sie möchte einen Beleg dafür, dass ihr Vater eine Mitschuld an ihrer furchtbaren Kindheit hat – weil er sie nicht beschützte.

Hat Lohmann Erfolg, ebnet sie den Weg für viele Stiefkinder

Und Lohmann kämpft nicht nur für sich. Sie weiß, dass es noch viele andere Betroffene gibt. Kinder, die mit einem Stiefvater aufwachsen und wissen möchten, wer ihr leiblicher Vater ist. Sie will, „dass viele, wenn ich durchkomme, den Weg auch einschlagen können“. Der gestrige Verhandlungstag brachte keine neuen Erkenntnisse. „Zum zu erwartenden Ergebnis kann ich noch nichts sagen“, sagt Anwalt Kreierhoff. Das Gericht habe ihm lediglich bescheinigt, dass es viele Fälle wie den von Inge Lohmann gebe und dass sich daraus ein dringender Klärungsbedarf ergebe. Doch das Gericht gab auch zu bedenken: DNA-Tests potenzieller Väter dürften nicht „ins Blaue hinein“ gefordert werden: Bei einer so festgestellten Vaterschaft müssten die Folgen auf das soziale Umfeld des Vaters bedacht werden. Das Justizministerium hat einen Arbeitskreis eingerichtet, der sich bis 2017 mit dem Reformbedarf im Abstammungsrecht befasst.

Das Urteil wird in drei Monaten erwartet. Lohmann bleibt bis dahin nur ein schriftliches Dokument ihres Vaters. „Der Kreis ist ein Sarg, in dem die Nachtigallen singen. Darum leben, aber mit Vernunft leben.“ Ein Eintrag in ihr Poesiealbum, am 27. Juli 1964.