Wedel. Der gebürtige Albaner Igli Kapllani floh als 17-Jähriger nach Deutschland und machte beim Wedeler TSV als Boxer eine große Karriere. Heute trainiert der Tangstedter die Boxer des SV Lurup

Zu Besuch bei Igli Kapllani, dem gebürtigen Albaner, der im Hamburger Boxsport eine Menge Spuren hinterlassen hat. Sechsmal war er für den Wedeler TSV Hamburger Meister, zweimal auch norddeutscher Meister. In der Bundesliga hat er sich durchgesetzt, und für seine Arbeit mit schwer erziehbaren Jugendlichen wurde er vom Innensenator der Stadt ausgezeichnet.

Wir sitzen im Haus der Familie im Kiemoorweg in Tangstedt. Ehefrau Sandra hat Kaffee und Gebäck serviert. Irgendwo im Haus singt und lacht Töchterchen Emily mit ihrer Freundin. Beim Rückblick auf 40 Jahre Leben mit mehr als 30 Jahren Boxsport lässt es sich bei Igli Kapllani gar nicht vermeiden, dass wir auf Menschen auf der Flucht zu sprechen kommen. Erst recht nicht in diesen Tagen und Wochen. Die Flucht, das ist schließlich der leidvollste und prägendste Teil seines eigenen Lebens. „Die Menschen, die ihr Leben in Trümmern in Syrien zurücklassen und sich zu uns durchkämpfen müssen“, sagt der Mann, der sonst Kraft und Lebensfreude ausstrahlt.

Bei den Gedanken an das toteFlüchtlingskind stockt Kapllanis Stimme

Plötzlich fällt ihm das Sprechen schwer. Seine Stimme ist kaum noch zu vernehmen, als er von dem Fernsehbild des kleinen syrischen Jungen spricht, der, mit dem Gesicht im Sand, auf der griechischen Insel Kos tot am Strand aufgefunden worden war. „Dieser Aylan Kurdi war im Alter meiner Tochter“. Als Igli Kapllani diese Worte flüstert, drängt Emily mit einer Frage zum Vater. Das Kind stutzt, schaut dem Vater ins Gesicht und streicht verwundert mit dem Finger über seine Wange. Es mag sein, dass die sonst so muntere Fünfjährige den Vater das erste Mal weinen sieht.

Igli Kapllani, einst ein 17-Jähriger aus Tirana, kämpfte mit der albanischen Jugend-Nationalmannschaft irgendwo im Süden Italiens. Das war 1992 und die Zeit der Kriege und politischen Umwälzungen auf dem Balkan. „Ich war nicht allein, als wir nachts im Mannschaftsquartier unsere Sporttaschen packten und flüchteten“, blickt Kapllani auf die Stunden zurück, in denen er den mutigsten, aber auch härtesten Entschluss seines jungen Lebens fasste.

„Bis Turin waren wir zusammen. Ich bin danach weiter zu einem Verwandten nach Frankreich.“ Und er machte die ersten bitteren Erfahrungen als Mensch auf der Flucht. Der Verwandte schob den Jungen in einen Lastwagen nach Deutschland. In Neumünster drückte der Fahrer dem 17-Jährigen die Sporttasche in die Hand und wünschte ihm viel Glück. Das Glück aber war im Notaufnahmelager in Itzehoe genau so fremd wie er selber. „Acht junge Kerle in einem Zimmer“, erzählt Igli Kapplani. „Rumänen, Bulgaren, einer aus Sierra Leone war dabei und einer aus Togo. Keiner sprach ein Wort Deutsch, keiner verstand den anderen. Du konntest keinem trauen, du durftest keine Schwäche zeigen. Die kleinste Rempelei, schon konnte die Situation explodieren.“

Vom ersten selbst verdienten Geldkaufte sich der Boxer einen Walkman

Er selbst ist deshalb meist im Trainingsanzug der Nationalmannschaft herumgelaufen, damit jeder sehen konnte, dass er zur albanischen Boxstaffel gehört hatte. Das sorgte für Respekt, auch im Flüchtlingsheim in Holm, in das er nach Wochen gebracht wurde. Hier hausten sie zu sechst in einem Zimmer. „Aber wir mussten, das heißt, wir durften arbeiten“, geht der Mann in seiner Geschichte weiter, der seit elf Jahren die Boxer des SV Lurup trainiert und leitet. „Wir haben Straßen gefegt und Blumenbeete gejätet.“ Vom ersten Geld, das er dafür bekam, hat er sich einen Walkman gekauft um „No­thing Else Matters“ von der Band Metal­lica zu hören.

„Vor Boxkämpfen zu Hause hatte mir der Song immer Selbstbewusstsein und Kraft gegeben“, sagt er. „Nach diesen Gefühlen hatte ich mich lange gesehnt.“ Aber als er dann auf dem Bett lag und das Lied einsetzte, brach alles aus ihm heraus, die Ängste vor der ungewissen Zukunft, die Ungewissheit über die Familie, zu der jeder Kontakt abgeschnitten war, die Einsamkeit. „Plötzlich hatte ich einen unglaublichen Druck auf der Brust. Ich war in Schweiß gebadet“, sagt er fast leise. „Ich hatte das Gefühl, das Heimweh würde mich zerreißen“.

Auch nach mehr als 20 Jahren weiß Igli Kapllani keine Antwort auf die Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht den Kontakt und die Freundschaft zu den Boxern des Wedeler TSV gefunden hätte.

Beim ersten Sparring schlug er so hart zu, dass er gestoppt werden musste

„Ich verstand noch immer kein Wort Deutsch, aber Thomas Müller, der mit Karl Blumenberg das Training leitete, hat mir Boxhandschuhe gegeben.“ Am heimischen Tisch, die Tasse mit dem Kaffee noch in der Hand, lächelt Igli Kapllani. „Beim ersten Sparring habe ich so energisch zugeschlagen, dass Karl Blumenberg mich stoppte. Aber er hat gesagt ,Du gut’. Das waren die ersten deutschen Worte, die ich verstand. Und die trage ich heute noch mit mir herum. Und das karierte Hemd werde ich auch nie vergessen.“

Der langjährige Wedeler Cheftrainer Karl Blumenberg, und dessen Frau hatten den einsamen Flüchtlingsjungen an Weihnachten eingeladen. Und das Hemd war das erste Geschenk, über das sich Igli Kapllani freuen durfte. Die Boxer mit Abteilungsleiter Günter Wilke unterstützten den Jungen bei seinem zweijährigen Kampf gegen die Abschiebung, besorgten ihm das erste eigene Zimmer, den ersten Sprachunterricht, später die Lehrstelle als Tischler. Und Igli Kapplani sammelte Meistertitel für Wedel.

Erst vier Jahre nach der Flucht konnten die Eltern ihren Sohn in Wedel wieder in die Arme nehmen. „Sie leben inzwischen bei meinem Bruder in den USA“, sagt Kapllani. „Aber noch heute schwärmen sie davon, mit welcher Herzlichkeit und Wärme sie damals von meinen Freunden empfangen und betreut wurden.“ Er selbst erhielt 1999 den deutschen Pass, wurde per Abendschule zum Bautechniker und ist heute angestellt bei der Stadt Hamburg. Der Junge, der vor 23 Jahren die Flucht wagte, ist längst in Deutschland angekommen.