Der Jugendfilm „Die Schüler der Madame Anne“ erzählt realistisch, jedoch mitunter zu beiläufig von einer Pariser Problemklasse

In den ersten Momenten hat man Angst um sie: die Lehrerin Madame Anne, verkörpert von der zierlichen Französin Ariane Askaride, scheint gegen die Horde der 16-Jährigen in ihrer Klasse keine Chance zu haben. Ort der Handlung ist die Banlieue Creteil im Südosten von Paris. Die Schüler sind von verschiedener Hautfarbe und religiösem Hintergrund, aber ihr altersgemäßer Trotz gegen Autoritäten macht aus ihnen eine bedrohlich erscheinende Front aus lautstarker Unaufmerksamkeit. Wie verschafft man sich da Beachtung? Madame Anne macht es vor: mit einer genau dosierten Mischung aus Autorität und Verständnis. Und viel Geduld.

Die Geschichte, die die französische Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar hier verfilmt, beruht einmal mehr auf wahren Begebenheiten. Ahmed Dramé, der im Film den schwierigen Schüler Malik spielt und auch am Drehbuch mitwirkte, hat sie selbst erlebt. Als Teil einer Gruppe seiner elften Klasse in Creteil gewann er 2009 einen vom französischen Bildungsministerium ausgeschriebenen Wettbewerb, der dem Gedenken von Widerstand und Vertreibung gewidmet ist. Was zunächst nicht gerade nach hochdramatischem Material klingt, erweist sich im Lauf des Films als bewegende Parabel. Dabei gibt sich Mention-Schaar bei der Inszenierung alle Mühe, die Klippen des Kitsches zu umschiffen. So fängt die Kamera im pseudo-dokumentarischen Stil Impressionen aus dem Klassenraum ein, die sich nach und nach zu einem Mosaik einzelner Schülerporträts verdichten. Was der Zuschauer erfährt, wird sozusagen beiläufig aufgeschnappt. Aber keine der Figuren bekommt einen eigenen dramatischen Bogen. Die individuellen Probleme und Hintergründe bleiben Andeutungen, erst als Gesamtbild einer Klasse bekommen sie Gewicht.

Da gibt es den bereits erwähnten Malik, der mit seinen Leistungen hinterherhinkt, und es gibt die unnahbare Mélanie (Noémie Merlant), die sich hinter ihrem Smartphone verschanzt. Man sieht sie in einer einzigen Szene an der Seite einer gleichgültigen, verkommenen Mutter. Die schöne Jamila (Wendy Nieto) wird auf dem Nachhauseweg von älteren Schülern angehalten und bedroht, weil sie sich nicht muslimisch genug kleide. Die schüchterne Julie (Naomi Amarger) ist die Klassenstreberin, der wortgewandte Max (Stéphane Bak) der Klassenclown. Und Olivier (Mohamed Seddiki) möchte seit Kurzem lieber Brahim genannt werden. Als Madame Anne, die als Wahlfach Kunstgeschichte unterrichtet, ihren Schülern ein Kirchen-Gemälde zeigt, auf dem der Prophet Mohammed in der Hölle gezeichnet ist, bricht in der Klasse Tumult aus. Doch Madame Anne erklärt in ihrer typisch strengen, aber maßvollen Weise, dass genau so Propaganda funktioniert.

Es ist die Summe dieser kleinen, sehr realistisch inszenierten Momente, die die Stärke des Films ausmachen. Er zwingt dem Zuschauer keinesfalls die Perspektive der Schüler auf, die „es von Hause aus nicht leicht haben“. Aber er verschließt auch nicht die Augen davor, dass die Häufung der kleinen Feindseligkeiten und Lernschwierigkeiten sich zum großen Problem auswachsen kann.

Als es so aussieht, dass über die Hälfte der Klasse die Versetzung in den Abiturjahrgang nicht schafft, ergreift Madame Anne schließlich besondere Maßnahmen: Sie versucht, ihre Schüler zum Wettbewerbsprojekt zu überreden. Und siehe da, das Thema, wie es Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern der Nazis ergangen ist, stößt bei den Schülern nach kurzen Anlaufschwierigkeiten auf großes Interesse.

Leider kommt Mention-Schaars Inszenierungskonzept hier an seine Grenzen. Um zu begreifen, was sich bei den Schülern tut, als sie sich mit den Nazi­gräuel auseinandersetzen, bräuchte es mehr als das beiläufige Kameraauge, das den einen oder anderen betroffenen Blick aufnimmt. Was vorher als Konflikt um muslimische Identität und ihre Kleiderordnungen immer wieder aufblitzte, wird nun allzu schnell ersetzt durch die zunehmende Euphorie für das Projekt. Trotzdem vermag der Film zu inspirieren, allein schon mit Ariane Ascarides großartigem Porträt einer Lehrerin.

„Die Schüler der Madame Anne“ F 2014, 105 Min., ab 6 J., R: Marie-Castille Mention-Schaar, D: Ariane Ascaride, Ahmed Dramé, Noémie Merlant, täglich im Abaton, Elbe, Holi, Koralle,
www.madameanne.de